»Ich werde es versuchen«, flüsterte Marcus, »aber.«
Wieder seufzte Hieron, dann fügte er mit ganz leiser Stimme hinzu: »Versuch’s. Und falls du es nicht schaffst, habe ich hier - ein Geschenk für dich.«
Er griff in eine Mantelfalte und zog einen kleinen, runden Tonflakon mit schwarzer Glasur hervor. Er war ungefähr so groß wie eine Kinderfaust. Sein Verschluß bestand aus einem Stück Holz, das man in einen kleinen Lappen gezwängt hatte. Schweigend hielt er ihn Marcus hin. Marcus nahm ihn langsam, seine Hände waren plötzlich eiskalt.
»Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis es wirkt«, sagte der König. »Ein Drittel davon dämpft Schmerzen, falls es sich nur ums Auspeitschen oder eine Prügelstrafe dreht. Wenn es aber ein Todesurteil sein sollte, dann trinke alles.«
»Königlicher Herr«, sagte Marcus, »du warst zweimal gnädig zu mir. Ich danke dir dafür.«
Hieron schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich habe dich verschont, weil ich mich deiner bedienen wollte. Und was diese Gnade betrifft, so flehe ich die Götter an, daß du sie nicht brauchen wirst. Hast du einen Platz, wo du es verstecken kannst? Gut. Dann wünsche ich dir alles Gute, Marcus Valerius, und hoffe, daß wir uns wiedersehen.«
Marcus schluckte und nickte, dann sagte er: »Sag Archimedes und seinem Hause, daß ich für die Sicherheit von Syrakus bete. Und - danke.«
Hieron berührte leicht seine Schulter, dann stand er entschlossen auf und verließ mit großen Schritten den Raum.
Marcus stellte den Flakon vorsichtig in die Flötenschatulle, an die Stelle, in der normalerweise die Rohrblätter steckten. Er war bei seinem letzten Rohrblatt angelangt und überlegte, ob er wohl noch ein neues brauchen würde. Er machte die Schatulle zu und schob sie sich durch den Gürtel.
Als er in den Innenhof hinunterstieg, sah er, daß die Wächter vom Steinbruch sein kleines Gepäckbündel mitgebracht hatten. Er schlang es sich über die Schulter und nahm seinen Platz in der Reihe der anderen Gefangenen ein, die vor Freude über ihre Entlassung lachten. Die Tore des Euryalus flogen auf, die Flöte stimmte einen Marsch an, und dann begann sein Abstieg von Syrakus zum Römerlager hinunter.
15
In diesem Sommer griffen die Römer Syrakus nicht mehr an. Nach dem Austausch der Gefangenen kehrten sie nach Messana zurück, wo die Truppen den Winter verbrachten, während Appius Claudius nach Rom ging.
Er wurde nicht wiedergewählt. Bei seiner Rückkehr hatten sich die Berichte, wie sehr die Armee unzufrieden mit ihm gewesen war, bereits in ganz Rom verbreitet. Man empfing ihn kühl, ohne jede Ehrung und Dank. Keiner der beiden Konsuln, die im Januar gewählt wurden, gehörte der Partei der Claudier an.
Trotzdem kam man zu dem Schluß, daß die beiden Legionen in Sizilien in Anbetracht der schwierigen Situation nicht ausreichten. Weitere sechs Legionen mit Spezialverstärkung wurden ausgehoben. Im Frühling brachen beide Konsuln mit ihren riesigen Armeen nach Sizilien auf. Nach ihrer Landung in Messana proklamierten sie günstige Bedingungen für jede sizilianische Stadt, die Syrakus im Stich lassen würde. Daraufhin fielen alle Kolonien sowie sämtliche Freunde und Verbündeten auf der Insel ab.
Im Frühsommer traf das vierzigtausend Mann starke Römerheer vor Syrakus ein, belagerte die Stadt und riegelte sie von der Landseite her gänzlich durch Wall und Graben sowie eine Mauer aus Erde und Holz ab. Griechische Ingenieure aus den unterworfenen Städten Tarentum und Kroton konstruierten Belagerungsmaschinen: Wandeltürme und Leitern, Enterhaken und Katapulte, außerdem sogenannte Schildkröten, bewegliche Karren mit dicken Dächern, die darunter nach allen Seiten offen waren und massive Rammböcke schützen konnten. Im Hochsommer versuchten die Belagerer, Syrakus zu erstürmen.
Die Niederlage war verheerend. Den ganzen vorigen Sommer über hatte Hieron die syrakusischen Verbündeten um Nachschub gebeten: Getreide, um die Stadt während einer Belagerung ernähren zu können, sowie Holz, Eisen und Haare zum Bau von Verteidigungswaffen. Ägypten und Rhodos, Korinth und Kyrene hatten reagiert. Im neuen Jahr war die Stadt noch unangreifbarer als je zuvor. Rings um die Stadtmauern hatte man in Katapultreichweite zusätzliche Gräben ausgehoben, damit die Angreifer ihre schwerfälligen Belagerungsmaschinen zuerst einen steilen Abhang hinunterkarren mußten und dann wieder hinauf und erneut hinunter. Und das alles unter dem Dauerbeschuß der syrakusischen Katapulte. Und dieser Beschuß hatte eine Wucht, wie es sich die Ingenieure der romanisierten Griechen Italiens nie hatten träumen lassen. Riesige Steine zerschmetterten die Schildkröten und warfen die Belagerungstürme um. Bei dem Versuch, sie wieder aufzurichten, fielen die Männer unter einem Bolzenhagel. Brandsätze krachten in die zerstörten Maschinen und setzten sie in Brand. Die Rammböcke kamen gar nicht erst in die Nähe der Mauern, sondern wurden wie Käfer auf den Anhöhen des Epipolae zerdrückt und von den flüchtenden Angreifern im Stich gelassen. Die Syrakuser nahmen Hunderte von Römern gefangen, die verwundet oder in den Maschinenwracks eingesperrt waren.
Nach dem Angriff beriet sich der ältere der römischen Konsuln, Manius Valerius Maximus, mit seinem Amtskollegen und den ranghöchsten Ratgebern. Zur besseren Anschauung ließ er einen der syrakusischen Katapultsteine zu sich ins Zelt rollen. Er wog über zweihundert Pfund. Die Römer starrten ihn entsetzt an.
»Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte der tarentinische Oberingenieur ehrfurchtsvoll, »daß Archimedes von Syrakus, der Ingenieur König Hierons, angeblich Drei-Talenter baut. Ich dachte, diese Geschichten wären übertrieben.«
»Anscheinend nur knapp daneben getippt«, sagte Valerius Maximus, »wie unser Angriff.«
Der Taraser hatte keine Ahnung, was er der syrakusischen Artillerie entgegensetzen sollte, und außerdem hatte er Angst. Selbst wenn es einer Belagerungsmaschine tatsächlich gelingen sollte, in die Nähe der Stadtmauern zu kommen, war es durchaus denkbar, daß ein Mann, der Drei-Talenter bauen konnte, noch weit schlimmere Dinge bereit hielt. Die Römer überlegten, ob es eine Möglichkeit gäbe, die Stadt vom Meer zu blockieren, kamen aber zu dem Schluß, daß schon ein Versuch sinnlos war. Außer den wenigen Schiffen der italienischen Griechen und den Transportkähnen, die sie über die Meerenge gebracht hatte, hatten sie keine Flotte. Dagegen besaßen die Syrakuser zur Verteidigung ihrer Schiffahrt achtzig Kriegsschiffe mit Zwischendecks. Und diese Anzahl war garantiert, denn die Syrakuser selbst hatten ihre Flotte im vergangenen Sommer stolz vor ihren römischen Gefangenen zur Schau gestellt.
Aber eine andere Nachricht war aus römischer Sicht noch viel beunruhigender: General Hanno, der Karthagergeneral in Sizilien, war nach Afrika zurückbeordert und anschließend vom Karthagischen Senat vor Gericht gestellt und wegen seiner Untätigkeit zum Kreuzestod verurteilt worden. Inzwischen kursierten Gerüchte, daß Karthago Söldnertruppen anwarb und den Krieg allen Ernstes vorantreiben wollte.
»Wir müssen mit Hieron von Syrakus Frieden schließen«, folgerte Maximus. »Der Hauptfeind ist Karthago, aber solange wir ein feindliches Syrakus im Rücken haben, können wir nicht mit den Karthagern kämpfen. Und eines ist klar: Wir können Syrakus nicht mit Gewalt in die Knie zwingen. Seit Beginn des Krieges hat Karthago Syrakus keinerlei Unterstützung zukommen lassen. Vielleicht ist Hieron bereit, sein Bündnis aufzugeben.«
Niemand hatte etwas gegen diese geänderte Taktik einzuwenden. Die Gerüchte von syrakusischen Grausamkeiten fanden in der breiten Öffentlichkeit kaum mehr Widerhall. Denn die römischen Gefangenen, die man letztes Jahr freigelassen hatte, lobten König Hieron in den höchsten Tönen.