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»Ach«, sagte Archimedes, stand auf und warf noch einmal einen Blick auf seine unterbrochene Berechnung und dann auf die Besucher. Diesmal war die Frage deutlich zu hören.

»Entschuldige uns«, sagte Fabius steif, »ich bin Quintus Fabius, ein Centurio der Zweiten Legion, und das ist Gaius Valerius. Wir sind gekommen, um Archimedes, den Sohn des Phidias, zu sprechen.«

»Du bist der Bruder von Marcus!« rief Archimedes, während er den zweiten Mann musterte. Inzwischen konnte er die familiäre Ähnlichkeit entdecken, die breiten Schultern und die störrische Kinnlinie. Allerdings war Gaius Valerius zierlicher und blonder als sein Bruder. »Du bist mir in meinem Hause willkommen, und ich wünsche dir gute Gesundheit! Als du meinen Namen riefst, dachte ich einen Augenblick, es wäre Marcus. Du klingst genau wie er.«

Gaius starrte ihn an. Als sich Fabius seinem Begleiter zuwandte und übersetzte, war Archimedes überrascht. Irgendwie hatte er erwartet, daß der Bruder von Marcus Griechisch sprechen würde.

Gaius nickte, dann machte er einen Schritt vorwärts und streckte Archimedes eine längliche, schmale Schatulle hin, die in ein schwarzes Tuch gewickelt war. »Ich bin gekommen, um dies zurückzugeben«, sagte er leise. »Ich glaube, es hat dir gehört.«

Archimedes starrte die Schatulle an. Er erkannte ihre Form wieder und wußte gleichzeitig mit kalter, qualvoller Trauer, daß etwas geschehen war, von dem er gehofft hatte, es würde nicht geschehen. Aber es war geschehen und noch dazu vor langer Zeit. Selbst als die Übersetzung beendet war, und Gaius noch einen Schritt vorwärts machte und ihm zum zweiten Mal die Schatulle anbot, nahm er sie nicht.

»Marcus ist tot«, sagte er kategorisch und schaute von der verhüllten Flötenschatulle hoch, direkt in die Augen des Bruders.

Hier gab es nichts mehr zu übersetzen. Gaius nickte.

Archimedes nahm die Flötenschatulle und setzte sich auf seinen Schemel. Zuerst zerrte er an den Knoten herum, die die Hülle festhielten, dann biß er die Kordeln durch und zerriß sie. Er wickelte die Schatulle aus, öffnete sie und nahm seinen Tenoraulos heraus. Das Holz fühlte sich trocken an, und als er an dem Metallring drehte, quietschte er steif. Noch immer steckte ein Rohrblatt im Mundstück. Die Klemme war angelaufen und hatte auf der trockenen, grauen Seite einen grünen Fleck hinterlassen. Er löste die Klemme und zog das Rohrblatt heraus, dann rieb er das Mundstück mit dem Tuch sauber, in das die Schatulle eingewickelt gewesen war. Während seine Hände genau wußten, was sie taten, war sein Herz verwirrt und wie betäubt.

»Ich spiele nicht«, sagte Gaius. »Und ich wollte nicht, daß sie für immer stumm bleibt.«

Archimedes nickte. Er spuckte auf das Mundstück und rieb es nochmals ab, dann legte er das Instrument in seinen Schoß und wischte sich mit dem nackten Arm übers Gesicht. Erst jetzt merkte er, daß er weinte. Sein Blick wanderte zu Gaius zurück. »Dein Bruder war ein außergewöhnlicher Mensch«, sagte er, »ein Mensch von großer Integrität. Ich hatte gehofft, er würde noch leben.«

Gaius verzog vor Schmerz das Gesicht. »Er starb letztes Jahr, am Tag, nachdem ihn dein Volk zurückgegeben hat. Appius Claudius hatte ihn zum fustuarium verurteilt.«

Beim letzten Wort zögerte Fabius, er konnte es nicht übersetzen. »Man hat ihn zu Tode geprügelt«, ergänzte er schließlich.

»Hieron hat mir erzählt, daß Marcus den Konsul beleidigt hat«, sagte Archimedes elend. »Er sagte, er hätte noch mit Marcus geredet, bevor er ihn zurückgeschickt hat, und hätte ihn beschworen, jede erdenkliche Lüge zu erzählen, um sein Leben zu retten. Aber im Lügen war Marcus nie sehr gut.«

»Er war ein echter Römer«, stimmte ihm Gaius stolz zu.

Die braunen Augen bohrten sich in seine, verständnislos und zornig. »Ach? Die Leute, die ihn umgebracht haben, haben sich selbst als echte Römer bezeichnet. Wenn sie welche waren, dann war er es nicht.«

»Appius Claudius ist kein Mensch, geschweige denn ein Römer! « rief Gaius erregt.

»So einfach kannst du ihn nicht abtun!« antwortete Archimedes. »Das römische Volk hat ihn gewählt und ist ihm gefolgt. Und jetzt zwingen seine Nachfolger meine Stadt, für einen Krieg zu bezahlen, den er und seine Freunde begonnen und uns aufgezwungen haben, für einen Krieg, der noch nicht vorbei ist. Rom hat ihn nicht verstoßen, und auch du kannst es nicht! Deine Landsleute haben Marcus ermordet. Ihr Götter! Barbaren!«

Gaius zuckte zusammen, während Fabius, der soeben die letzten Bemerkungen übersetzte, lediglich eine verächtliche Miene zog. Der Wachsoldat vom Euryalus war die ganze Zeit hinter ihnen gestanden und hatte die beiden Römer mit gezücktem Speer im Auge behalten. Jetzt grinste er. Archimedes schaute wieder auf die Flöte hinunter und versuchte, sich zu beruhigen. Er betastete das trockene Holz und dachte daran, wie Marcus es gestreichelt hatte. Marcus hatte nie die Zeit gehabt, richtig Flötenspielen zu lernen. Verschwendung, Verschwendung, was für eine törichte Verschwendung!

»Ich habe meinen Bruder geliebt«, sagte Gaius langsam, »und ich wollte.«

Er zögerte. Er wußte nicht, wie er mit diesem Mann reden sollte. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Archimedes der weißbärtige Wei-se aus seiner Phantasie gewesen wäre. Dann hätte er gewußt, wie er sich verhalten sollte. Dieser junge Mann, dieser Ausländer, der wütend seine Landsleute verdammte, verwirrte ihn und brachte ihn durcheinander. Er mußte wieder an die beiden Stimmen im dunklen Innenhof des Hauses in der Achradina denken: diese hier, rasch, vom Alkohol verzerrt, fragend und befehlend zugleich; und dann die andere Stimme, die jetzt stumm war. Schon damals hätte er nicht sagen können, welche Verbindung zwischen den beiden bestand, welche Emotionen dahintersteckten. Und jetzt wußte er es immer noch nicht. Wieder trat er einen Schritt vor und sank vor der Gestalt auf dem Schemel in die Hocke. Er versuchte, ihm in die Augen zu schauen. Insgeheim war er über die erzwungenen Pausen wütend, denn nach jedem Gedanken mußte er abwarten, bis Fabius seine Worte in verständliche Begriffe umgesetzt hatte. Er sehnte sich nach einer direkten Unterhaltung.

»Ich hatte letztes Jahr nicht viel Zeit, um mit Marcus zu reden«, sagte er. »Ganz kurz während unserer Flucht, und dann noch ein bißchen vor und nach der Gerichtsverhandlung. Trotzdem hat er ein wenig von Ägypten erzählt und von dir und deinem Haushalt und über, über griechische Dinge. Mechanik, Mathematik - alles Dinge, von denen ich nichts verstehe. Ich kenne nur einen Bruchteil, wie er in seinen letzten Lebensjahren war, und wüßte es doch gerne. Ich habe ihn verloren, als er sechzehn war. Beinahe die Hälfte seines Lebens fehlt mir. Bitte, erzähle mir, was du kannst. Ich bitte dich um diesen Gefallen, als Bruder eines Mannes, der dein Sklave war und für den du anscheinend eine gewisse Sympathie empfunden hast.«

Archimedes seufzte. Er betastete noch immer die Flöte. »Was soll ich sagen? Er war, wie du gesagt hast, mein Sklave, und die meiste Zeit, die ich ihn gekannt habe, habe ich ihn einfach als selbstverständlich hingenommen. Man fragt keinen Sklaven, was er denkt oder fühlt, man erwartet von ihm einfach nur, daß er mit seiner Arbeit zurechtkommt. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, hat ihn mein Vater gekauft. Wir haben hundertachtzig Drachmen für ihn bezahlt -das war während des Pyrrhuskrieges. Sklaven waren damals billig. Wir hatten zu der Zeit einen Weinberg und brauchten einen Arbeiter, der bei der Weinlese helfen sollte. Außerdem gab es da noch einen Bauernhof. Zum Großteil wurden die Pächter allein damit fertig, aber während der Erntezeit haben wir, wie es sich gehört, zu helfen versucht. Das hat dann alles dein Bruder gemacht und außerdem die schweren Arbeiten im Haus. Gelegentlich hat er auch mal bei den Nachbarn ausgeholfen. Marcus haßte sein Sklavendasein - ich denke, das habe ich immer gewußt -, aber sonst glaube ich nicht, daß er unglücklich war. Er hat bei uns im Hause gelebt, mit mir und meinen Eltern und meiner Schwester und unseren anderen Sklaven. Mein Vater war ein sanftmütiger Mensch und ein guter Herr. Dein Bruder schien nichts gegen seine Arbeit zu haben, und andere Dinge haben ihm sogar Spaß gemacht. Wir haben viel musiziert, und wenn wir in Konzerte und ins Theater gingen, haben wir Marcus meistens zum Tragen der Sachen mitgenommen, weil wir wußten, daß er die Musik gern hat. Genau wie die Maschinen - ja, die hat er auch gemocht. Ich habe sie gebaut, und er hat sich sehr dafür interessiert. Er hat beim Hämmern und Sägen geholfen und hat selbst Vorschläge gemacht: hat mir erklärt, daß der nächste Kran in halber Höhe einen Feststeller brauchte, und so weiter. Und wenn ich dann herausgefunden hatte, wie das gehen könnte, hat er darüber gelacht. So haben wir allmählich gelernt, uns gegenseitig zu mögen.