Während der Citroen in südlicher Richtung durch die Stadt brauste, erschien rechts in der Ferne die himmelstürmende Silhouette des beleuchteten Eiffelturms. Langdon musste an Vittoria denken und das spielerische Versprechen auf ein Wiedersehen alle sechs Monate irgendwo auf der Welt an einem romantischen Ort – ein Versprechen, das sie sich damals vor einem Jahr gegeben hatten. Nach Langdons Einschätzung hatte der Eiffelturm gute Aussichten, in die nähere Auswahl zu kommen, leider war seit dem letzen Kuss auf einem lärmenden römischen Flughafen über ein Jahr vergangen.
»Schon mal oben gewesen?«, sagte der Beamte mit einem Seitenblick auf Langdon.
Langdon fuhr aus seinen Gedanken hoch. »Wie bitte?« Der Beamte zeigte durch die Windschutzscheibe auf den Eiffelturm. »Schon mal da oben gewesen?«
Langdon verdrehte die Augen. »Nein.«
»Er ist das Wahrzeichen Frankreichs. Einfach perfekt.« Langdon nickte abwesend. Unter Symbolologen war es ein Treppenwitz, dass Frankreich – ein Land, das unter anderem für Machotum, Schürzenjägerei und kleinwüchsige Führerpersönlichkeiten wie Napoleon und Pippin den Kurzen bekannt war kein passenderes nationales Wahrzeichen hatte wählen können als einen dreihundert Meter großen Phallus.
An der Kreuzung Rue de Rivoli schaltete die Ampel auf Rot, doch der Citroen verringerte das Tempo kein bisschen. Der Beamte jagte die Limousine mit Vollgas über die Kreuzung und in jenen Teil der Rue Castiglione hinein, der als Parkallee weiterführte und den nördlichen Eingang der berühmten Tuileriengärten bildete – für die Pariser das, was der Central Park für die New Yorker ist. Die Touristen bezogen die Bezeichnung Jardin des Tuileries fälschlicherweise meist auf die dort blühende Tulpenpracht, doch das Wort Tuileries leitete sich in Wirklichkeit von etwas viel Prosaischerem ab: An der Stelle des Parks hatte sich einst eine riesige schmutzige Lehmgrube befunden, aus der sich die Pariser Bauunternehmer den Ton für die Herstellung der für die Stadt so typischen roten Dachziegel holten – die tuiles.
Als der Beamte in den verlassenen Park fuhr, stellte er mit einem Griff unters Armaturenbrett das plärrende Martinshorn ab. Aufatmend genoss Langdon die plötzliche Stille. Der Strahl der Halogenscheinwerfer huschte über den kiesbedeckten Parkweg, auf dem die Reifen mit hypnotisierendem Zischen dahinrollten. Langdon hatte die Tuilerien bislang für geheiligten Boden gehalten – hatte nicht Claude Monet in diesen Gärten als Geburtshelfer des Impressionismus mit Form und Farbe experimentiert? Heute jedoch lag eine merkwürdige Aura von drohendem Unheil über diesem Ort.
Der Citroën bog nach links in die Hauptallee auf der Zentralachse der Parkanlage ein. Nachdem der Fahrer um einen großen Brunnen gekurvt war, steuerte er den Wagen nach Überquerung einer breiten, verlassenen Avenue auf einen weitläufigen rechteckigen Platz. Langdon erkannte den großen steinernen Torbogen, der das Ende der Tuilerien bildete.
Der Arc du Carousel.
Ungeachtet der orgiastischen Feierlichkeiten, die der Arc du Carousel einst gesehen hatte, wurde dieser Platz von Kunstkennern aus einem ganz besonderen Grund geschätzt: Von der Esplanade am Ende der Tuilerien hatte man einen Blick auf vier der großartigsten Museen der Welt, je eines in jeder Himmelsrichtung.
Zum rechten Seitenfenster hinaus sah Langdon im Süden jenseits der Seine am Quai Anatole France die dramatisch beleuchtete Fassade eines ehemaligen Bahnhofs, der heute das berühmte Musée d'Orsay beherbergte. Wenn er sich nach links wandte, konnte er die ultramoderne Dachpartie des Centre Pompidou erkennen, in dem das Museum für Moderne Kunst untergebracht war. Hinter ihm im Westen ragte der berühmte Obelisk des Ramses über die Wipfel der Bäume und bezeichnete den Standort des Musée de Jeu de Paume.
Und genau vor sich erblickte Langdon jetzt durch den Torbogen hindurch den klotzigen Renaissancepalast, der die Heimstätte der berühmtesten Gemäldegalerie der Welt geworden war.
Der Louvre.
Wieder einmal empfand Langdon das ihm inzwischen schon vertraute Staunen, während er versuchte, den gewaltigen Gebäudekomplex in seiner Gesamtheit zu erfassen. Auf der gegenüberliegenden Seite eines Platzes von atemberaubenden Ausmaßen ragte die imposante Fassade des Louvre wie ein Bollwerk in den Pariser Nachthimmel. Der Louvre mit seinem Grundriss eines gigantischen Hufeisens war das längste Gebäude Europas und erstreckte sich über eine größere Länge als drei aneinander gelegte Eiffeltürme. Nicht einmal die nach Tausenden von Quadratmetern messenden Freiflächen zwischen den Museumsflügeln konnten die Wucht der Fassade beeinträchtigen. Langdon hatte einmal einen Spaziergang um den Louvre unternommen. Es war ein Fußmarsch von knapp fünf Kilometern geworden.
Um sämtliche 65.300 Ausstellungsstücke des Louvre gebührend zu bewundern, brauchte der Besucher angeblich fünf Tage, doch die meisten Touristen wählten ein abgekürztes Verfahren, das Langdon als »Louvre Light« zu bezeichnen pflegte. Dabei wurden die drei berühmtesten Stücke des Museums im Schweinsgalopp abgeklappert: allen voran die Mona Lisa, ferner die Venus von Milo und die geflügelte Nike von Samothrake. Art Buchwald hatte sich einmal ironisch damit gebrüstet, alle drei Meisterwerke in fünf Minuten und sechsundfünfzig Sekunden »gemacht« zu haben.
Der Fahrer sog ein kleines Sprechfunkgerät heraus und rief zwei knappe Sätze auf Französisch hinein. »Monsieur Langdon est arrivé. Deux minutes.«
Als Antwort drang eine knisternde Folge von Krach- und Zischlauten aus dem Gerät.
Der Beamte steckte den Apparat wieder weg. »Der Capitaine erwartet Sie am Haupteingang«, ließ er Langdon wissen.
Unter Missachtung eines großen Verbotsschildes für Kraftfahrzeuge jeder Art gab der Fahrer Gas und jagte den Citroën über den Bordstein auf den großen Platz. Der Haupteingang des Louvre kam in Sicht. Von sieben aus dreieckigen Brunnenbecken aufsteigenden Leuchtfontänen umgeben, erhob er sich steil im Hintergrund.
La Pyramide.
Der neue Eingang des Pariser Louvre war inzwischen fast schon berühmter als das Museum selbst. Die umstrittene modernistische Glaspyramide des chinesischstämmigen amerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei hatte den Zorn der Traditionalisten auf sich gezogen, die geltend machten, sie zerstöre die Würde der Renaissance-Hofanlage. Goethe hatte die Architektur als »gefrorene Musik« bezeichnet. Die Kritiker apostrophierten Peis Werk demgemäß als »kratzende Kreide auf einer Schiefertafel«. Fortschrittlich gesinnte Bewunderer von Peis knapp zweiundzwanzig Meter hoher transparenter Glaspyramide priesen das Bauwerk hingegen als eine überzeugende Synthese von altehrwürdiger Form und moderner Bautechnik, als symbolisches Verbindungsglied zwischen dem Alten und dem Neuen, als einen Garanten des gelungenen Übergangs des Louvre ins neue Millenium.
»Wie gefällt Ihnen unsere Pyramide?«, wollte der Beamte wissen.
Langdon zog die Stirn kraus. Die Franzosen schienen Freude daran zu haben, Amerikanern mit dieser Frage zu Leibe zu rücken. Es war natürlich eine Fangfrage. Gab man zu, dass einem die Pyramide gefiel, stempelte man sich zum geschmacklosen Amerikaner ab, lehnte man die Pyramide ab, hatte man etwas gegen die Franzosen.
»Mitterand hat Mut bewiesen«, meinte Langdon diplomatisch. Der verstorbene französische Staatspräsident, der den Auftrag zum Bau der Glaspyramide erteilt hatte, hatte angeblich unter einem »Pharaonenkomplex« gelitten. Francois Mitterand, der Paris im Alleingang mit ägyptischen Obelisken, Kunstwerken und Artefakten voll gestellt hatte, wurde wegen seiner an Besessenheit grenzenden Vorliebe für die ägyptische Kultur von den Franzosen noch immer »die Sphinx« genannt.