»Von wem kam der Vorschlag, sich heute Abend zu treffen?«, erkundigte Fache sich unvermutet. »Von ihnen oder von Saunière?«
Was für eine merkwürdige Frage! »Von Monsieur Saunière«, sagte Langdon, während sie den Durchgang betraten. »Seine Sekretärin hat vor einigen Wochen per E-Mail Kontakt mit mir aufgenommen. Sie teilte mir mit, Direktor Saunière habe gehört, dass ich diesen Monat in Paris einen Vortrag hielte. Er würde anschließend gern etwas mit mir besprechen.«
»Und was?«
»Ich habe keine Ahnung. Vermutlich irgendetwas aus dem Bereich der Kunst. Wir haben ein paar gemeinsame Interessensgebiete.«
Fache sah Langdon skeptisch an. »Und Sie haben keine Ahnung, um was es bei Ihrem Treffen gehen sollte?«
Langdon wusste es wirklich nicht. Er war zwar gleich neugierig geworden, hatte es aber für unpassend gehalten, eingehend nachzufragen. Angesichts der Zurückgezogenheit des hochverehrten Jacques Saunière, die in der ganzen Zunft bekannt war, hatte Langdon allein schon die Tatsache, dass der Museumsdirektor ihn zu treffen wünschte, als schmeichelhaft empfunden.
»Haben Sie wenigstens eine Vermutung, Mr Langdon, was unser Mordopfer am Abend seines Todes mit Ihnen besprechen wollte? Es könnte sich als sehr hilfreich erweisen.«
Die Direktheit der Frage ließ Unbehagen in Langdon aufsteigen. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe auch nicht nachgefragt. Ich empfand es als Ehre, von Monsieur Saunière angesprochen zu werden. In meinen Vorlesungen benutze ich seine Veröffentlichungen als Lehrmaterial für meine Studenten.«
Fache vertraute die Information seinem Notizbuch an.
Die beiden Männer hatten inzwischen die Hälfte der Eingangspassage des Denon-Flügels hinter sich gebracht. Langdon sah die beiden Rolltreppen am Ende des Ganges. Sie standen still.
»Sie hatten also gemeinsame Interessengebiete?«, fragte Fache noch einmal nach.
»Ja. Ich habe den größten Teil des letzten Jahres damit verbracht, am Entwurf eines Buches zu arbeiten, das sich mit Monsieur Saunières Hauptinteressensgebiet befasst. Ich habe mir einiges davon versprochen, wenn ich ihm die Würmer aus der Nase ziehe.«
»Wie bitte?« Fache konnte mit dem Ausdruck offensichtlich nichts anfangen.
»Ich war neugierig, was Saunière zu dem Thema zu sagen hatte.«
»Verstehe. Und um welches Thema handelt es sich?«
Langdon zögerte. Er wusste nicht recht, wie er sich verständlich machen sollte. »Mein Manuskript befasst sich im Prinzip mit der Ikonographie der matriarchalischen Kulte – den Vorstellungen von einer Heiligkeit des Weiblichen und der damit verbundenen künstlerischen Symbolik.«
Fache strich sich mit seiner Pranke über das pomadige Haar. »Und Saunière war Experte auf diesem Gebiet?«
»Der Experte schlechthin.«
»Verstehe.«
Langdon spürte, dass Fache überhaupt nichts verstand. Auf dem Gebiet der bildhaften Darstellung von weiblichen Gottheiten galt Saunière als maßgebliche Kapazität. Saunière hatte nicht nur eine leidenschaftliche persönliche Vorliebe für Artefakte, die mit Fruchtbarkeitsriten, Muttergöttinnen, Hexen- und Weiblichkeitskulten zu tun hatten. In den zwanzig Jahren seiner Amtszeit als Direktor des Louvre hatte er dem Museum zur weltweit umfangreichsten Sammlung entsprechender Kunst- und Kultgegenstände verholfen: Doppeläxte aus dem ältesten Tempel der delphischen Priesterinnen, goldene Hermesstäbe, Hunderte von kleinen Ankhs, ägyptischen Schleifenkreuzen, die Engelsfigürchen ähneln, Sistrumrasseln, mit denen im alten Ägypten die bösen Geister vertrieben wurden, und eine erstaunliche Vielfalt von Plastiken, die die Isis darstellten, wie sie den Horus stillt.
»Es könnte doch sein, dass Saunière von Ihrem Manuskript gewusst und das Treffen vorgeschlagen hat, um Ihnen bei Ihrem Buch zu helfen«, mutmaßte Fache.
Langdon schüttelte den Kopf. »Zurzeit weiß niemand etwas von meinem Manuskript. Es ist bislang nur ein Entwurf. Einzig mein Lektor hat es schon gesehen.«
Fache verstummte.
Was den Grund betraf, weshalb noch niemand das Manuskript zu Gesicht bekommen hatte, schwieg Langdon sich aus. In seinem gut dreihundert Seiten umfassenden Entwurf – mit dem Arbeitstitel »Symbolik der untergegangenen Muttergottheit« – unterbreitete Langdon unkonventionelle Deutungen der herkömmlichen religiösen Symbolik, die mit Gewissheit kontroverse Diskussionen zur Folge hatten.
Am Fuß der Rolltreppe hielt Langdon inne. Fache war nicht mehr an seiner Seite. Als er sich umdrehte, sah er, dass der Capitaine an einem Personalaufzug stehen geblieben war.
»Wir nehmen den Lift«, sagte Fache. »Wie Sie bestimmt wissen, ist es zu Fuß noch ein ziemliches Stück bis zur Galerie.«
Langdon wusste zwar, dass der erste Stock mit dem Aufzug sehr viel einfacher zu erreichen war als über die langen Treppenfluchten, doch er blieb trotzdem regungslos stehen.
Fache hielt ungeduldig die Tür auf. »Stimmt etwas nicht?«
Während Langdon sich umdrehte, ließ er den Blick sehnsüchtig das weiträumige offene Treppenhaus hinaufschweifen. Er atmete tief aus. Es ist alles in bester Ordnung, redete er sich ein und ging zum Aufzug. Langdon litt an Klaustrophobie, seit er als Kind in einen alten Brunnenschacht gefallen war. Er hatte in der engen Brunnenröhre stundenlang Wasser treten müssen, bis man ihn endlich gefunden und mit knapper Not gerettet hatte. Seit damals hatte ihn eine panische Angst vor geschlossenen Räumen verfolgt: Aufzüge, U-Bahnen, Squashcourts. Der Aufzug ist eine völlig unbedenkliche Vorrichtung, sagte er sich nun, glaubte es aber nicht. Das Ding ist ein winziger Blechkasten, der an einem dünnen Drahtseil in einem engen Schacht baumelt! Langdon hielt die Luft an und trat in den Lift. Mit dem Schließen der Schiebetür kam der wohl bekannte Adrenalinstoß.
Zwei Etagen. Zehn Sekunden.
Der Lift fuhr an. »Sie und Monsieur Saunière … «, sagte Fache nachdenklich, »Sie haben sich noch nie miteinander unterhalten? Nie Briefwechsel gehabt?«
Schon wieder so eine seltsame Frage. Langdon schüttelte den Kopf. »Nein, nie.«
Fache legte den Kopf schief. Er schien sich einen Knoten ins imaginäre Taschentuch zu machen und betrachtete kommentarlos die spiegelnde Edelstahltür.
Langdon versuchte, sich auf irgendetwas anderes als die ihn umschließenden vier Wände zu konzentrieren. In der polierten Stahltür spiegelte sich der Krawattenclip des Polizisten – ein silbernes Kreuz mit einer Einlegearbeit aus dreizehn schwarzen Onyxsplittern. Langdon kannte das Symbol als crux gemmata, ein christliches Symbol für Jesus und die zwölf Apostel. Er war erstaunt. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ein französischer Capitaine seine religiöse Überzeugung so offen vor sich her trug. Aber das war nun mal Frankreich. Das Christentum war hier keine Religion, sondern ein Muttermal.
»Das ist eine crux gemmata«, sagte Fache unvermittelt.
Langdon blickte ertappt auf. In der glänzenden Tür sah er, wie Fache sein Spiegelbild musterte.
Der Aufzug hielt federnd, die Tür glitt auf.
Langdon atmete aus und trat hinaus auf den Gang. Er brauchte die Weite der Gemäldegalerien mit ihren berühmten hohen Decken. Doch die Welt, die er betrat, hatte mit seinen Erwartungen rein gar nichts zu tun. Überrascht blieb er stehen.
Fache streifte ihn mit einem Blick. »Ich kann wohl davon ausgehen, Mr Langdon, dass Sie den Louvre noch nie nach Öffnungsschluss gesehen haben?«
Davon können Sie getrost ausgehen, dachte Langdon und versuchte, sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen. In den üblicherweise perfekt ausgeleuchteten Galerien des Louvre war es überraschend schummrig. Statt des gleichmäßig von oben herabfallenden weißen Lichts schien sich in gewissen Abständen ein gedämpfter roter Lichtschimmer von den Fußleisten aus nach oben und auf dem gekachelten Boden auszubreiten.