Inzwischen saß Aringarosa in einem Linienflugzeug nach Rom und blickte auf den dunklen Atlantik hinunter. Die Sonne war untergegangen, doch Aringarosa wusste, dass sein eigener Stern im Steigen begriffen war. Heute Nacht werden wir die Schlacht gewinnen, dachte er. War es wirklich nur ein paar Monate her, dass er sich den Mächten, die sein Reich zerstören wollten, völlig schutzlos ausgeliefert gefühlt hatte?
Als Prälat der »Prälatur vom Heiligen Kreuz und Opus Dei«, wie die vollständige Bezeichnung lautet, hatte Bischof Aringarosa das vergangene Jahrzehnt seines Lebens damit verbracht, die Botschaft vom »Werk Gottes« zu verbreiten – die wörtliche Übersetzung des lateinischen Begriffs Opus Dei. Die im Jahre 1928 von dem spanischen Priester Josemariá Escrivá gegründete Kongregation setzte sich für die Rückkehr zu einem konservativen Katholizismus ein und verpflichtete ihre Mitglieder zu einem frommen und entsagungsvollen Leben im Dienste Gottes.
Die traditionsverbundene Weltanschauung von Opus Dei hatte ursprünglich in Spanien Fuß gefasst, bevor das Franco-Regime die Herrschaft übernahm, hatte sich aber nach der 1938 erfolgten Veröffentlichung von Escrivás Buch »Der Weg – 999 Meditationssätze zur Umsetzung von Gottes Willen in der eigenen Lebensführung« explosionsartig auf der ganzen Welt verbreitet. Inzwischen war »Der Weg« in zweiundvierzig Sprachen übersetzt und mehr als vier Millionen Mal verkauft worden. Opus Dei war zu einer weltweit operierenden Größe geworden. Seine Ordenshäuser, Lehrinstitute und sogar Universitäten fanden sich in fast jeder größeren Metropole der Welt. Opus Dei war die am schnellsten wachsende und finanziell am besten abgesicherte katholische Organisation der Welt. Leider hatte Aringarosa auch erfahren müssen, dass in einer Zeit des weit verbreiteten Zynismus, der Fernsehevangelisten und täglich neuer religiöser Kulte der enorm gewachsene Reichtum und Einfluss seiner Organisation den Argwohn geradezu magnetisch angezogen hatten.
»Man hört oft den Vorwurf, Opus Dei sei eine Sekte, die Gehirnwäsche praktiziert«, war eine häufige Einlassung von Journalisten. »Ein anderer Vorwurf lautet, dass Opus Dei eine ultrakonservative katholische Geheimgesellschaft ist. Was sind Sie denn nun wirklich?«
»Keines von beiden«, pflegte der Bischof geduldig zu antworten. »Wir sind eine Kongregation der katholischen Kirche – Katholiken, die es sich zur vornehmsten Aufgabe gemacht haben, in ihrem Alltag die katholische Lehre so streng wie möglich zu befolgen.«
»Schließt das »Werk Gottes« notwendigerweise das Keuschheitsgelübde, die Entrichtung des Zehnten, Selbstgeißelung und das Tragen eines Bußgürtels zur Vergebung der Sünden ein?«
»Die Dinge, von denen Sie hier sprechen, treffen nur auf einen kleinen Teil unserer Mitglieder zu«, sagte Aringarosa. »Man kann sich bei uns auf ganz unterschiedlichen Ebenen engagieren. Tausende unserer Mitglieder sind verheiratet, haben Familie und verrichten das Werk Gottes in ihren Gemeinden. Andere entschließen sich zu einem asketischen Leben in einem unserer Ordenshäuser. Das sind persönliche Entscheidungen unserer Mitglieder, wobei aber jedes Mitglied von Opus Dei dem Ziel verpflichtet ist, durch den Dienst am Werk Gottes zur Verbesserung unserer Welt beizutragen – zweifellos ein löbliches Unterfangen.«
Vernunftargumente verfingen selten. Die Medien brauchten Skandalgeschichten, und auch bei Opus Dei gab es – wie in allen großen Organisationen – hin und wieder ein paar schwarze Schafe, die ihre ganze Herde in Verruf brachten.
Zwei Monate zuvor war an einer Universität im Mittleren Westen der USA eine Gruppe des Opus Dei aufgeflogen, die ihre Novizen heimlich mit der Droge Meskalin bearbeitet hatte, um ihnen den euphorischen Zustand als religiöse Erfahrung zu verkaufen. Woanders hatte ein Student seinen Bußgürtel länger als die empfohlenen zwei Stunden täglich getragen und sich eine Blutvergiftung zugezogen, die beinahe tödlich verlaufen wäre. Vor nicht allzu langer Zeit hatte in Boston ein desillusionierter junger Investment-Banker seine gesamten Ersparnisse Opus Dei überschrieben und anschließend Selbstmord zu begehen versucht.
Verirrte Schäflein, dachte Aringarosa verständnisvoll.
Das größte Ärgernis war natürlich der überall breit getretene Prozess gegen den FBI-Spion Robert Hansen gewesen, der nicht nur ein prominentes Mitglied von Opus Dei war, sondern zu allem Überfluss auch noch mit sexuell abweichendem Verhalten glänzte. Im Prozess war ans Licht gekommen, dass er in seinem Schlafzimmer Videokameras installiert hatte, mit denen seine Freunde ihn beim Geschlechtsverkehr mit seiner Frau beobachten konnten. »Nicht unbedingt die Feierabendbeschäftigung eines frommen Katholiken«, hatte der Richter bemerkt.
Leider hatten diese Ereignisse zur Entstehung einer neuen Gruppe mit dem Namen ODAN geführt, »Opus Dei Achtsamkeitsnetzwerk«, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Opus Dei auf die Finger zu sehen. Die populäre Website der Gruppe verbreitete schaurige Geschichten ehemaliger Angehöriger des Opus Dei, die eindringlich vor dem Beitritt warnten. In den Medien sprach man inzwischen vom Opus Dei als der »Mafia Gottes« und von einem »Christuskult«.
Die Angst vor dem Unbekannten, dachte Aringarosa. Er fragte sich, ob diese Kritiker überhaupt eine Ahnung davon hatten, wie viele Lebensschicksale durch Opus Dei bereichert worden waren. Die Kongregation hatte die volle Unterstützung und den Segen des Vatikans. Opus Dei ist eine Personalprälatur des Heiligen Vaters.
Doch jüngst hatte Opus Dei sich plötzlich der Bedrohung durch eine Macht ausgesetzt gesehen, die viel stärker war als die Medien: Aringarosa befand sich unvermutet im Visier eines Gegners, vor dem es kein Verstecken gab. Vor fünf Monaten hatte jemand das Kaleidoskop der Macht geschüttelt. Aringarosa hatte sich von diesem Schlag noch immer nicht erholt.
Sie wissen nicht, auf was für einen Krieg sie sich eingelassen haben, flüsterte Aringarosa, während er aus dem Flugzeugfenster hinunter auf die Dunkelheit des Atlantiks blickte. Einen kurzen Moment schlug die Perspektive seiner Augen um, und sein Blick blieb an der Spiegelung in der Fensterscheibe haften: ein unattraktives Gesicht, dunkel, länglich, mit einer unübersehbaren krummen Nase, die ein Spanier platt geschlagen hatte, als Aringarosa noch ein junger Missionar gewesen war. Die Verunstaltung kümmerte ihn nicht mehr. Aringarosa lebte für eine jenseitige Welt, nicht für das Diesseits.
Beim Überfliegen der portugiesischen Küste begann das stumm geschaltete Handy in der Tasche seiner Soutane plötzlich zu vibrieren. Aringarosa war sich bewusst, dass die Benutzung von Handys während des Fluges untersagt war; er wusste aber auch, dass es der von ihm so dringend erwartete Anruf sein musste. Nur ein einziger Mensch kannte seine Nummer – der Mann, der ihm den Apparat mit der Post zugeschickt hatte.
Aufgeregt nahm er das Gespräch an. »Ja?«, sagte er leise.
»Silas hat den Stein lokalisiert«, sagte der Anrufer. »Er befindet sich in Paris, in der Kirche Saint-Sulpice.«
Bischof Aringarosa lächelte. »Dann sind wir also nahe dran.«
»Wir können uns den Stein sofort holen. Aber dazu brauchen wir Ihre Beziehungen.«
»Aber natürlich! Was soll ich tun?«
Als Aringarosa das Handy abschaltete, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er starrte wieder hinaus in den Abgrund der Nacht. Angesichts der von ihm losgetretenen Ereignisse kam er sich winzig vor.
Achthundert Kilometer entfernt stand der Albino mit Namen Silas über einer Waschschüssel und beobachtete die roten Schlieren im Wasser, während er sich das Blut vom Rücken tupfte. Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein, betete er Psalm einundfünfzig. Wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee.