Jacob wollte dem Reverend sagen, er solle sich nicht zu viele Umstände machen. Aber dazu kam er nicht. Ein ganz leises Klopfen an Tür ließ die vier Menschen im Studierzimmer aufhorchen.
»Das klingt nicht gerade nach Mrs. Goldridge«, stellte Hume mit gerunzelter Stirn fest und rief laut: »Herein!«
Zögernd wurde die Tür geöffnet, und ein kleines Mädchen trat ein, höchstens vier oder fünf Jahre alt. Eine Chinesin mit niedlichem Gesicht. Das tiefschwarze Haar war zu einem langen Zopf geflochten.
»Ma-Ling!« rief Hume überrascht aus. »Du solltest längst schlafen. Was suchst du hier?«
Ma-Ling ballte ein Händchen zur kleinen Faust und rieb sich damit den Schlaf aus einem Auge.
»Ich bin aufgewacht, Reverend. Jemand hat so laut gebrüllt. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen.«
»Das waren wohl Sie, Mr. Brown«, sagte Hume ein wenig vorwurfsvoll. »Ma-Lings Schlafsaal liegt direkt über diesem Zimmer. Ich werde Mrs. Goldridge bitten, Ma-Ling zurück ins Bett zu bringen.«
Doch das kleine Mädchen schien gar nicht daran zu denken, ins Bett zu gehen. Es riß die schlafverklebten Äuglein auf, als es Susu Wang sah.
»Shu-hsien!« stieß Ma-Ling überrascht hervor und rannte zu der jungen Frau, um ihr in die Arme zu fallen.
»Ma-Ling war schon immer Shu-hsiens besonderer Liebling«, erklärte Hume schmunzelnd. »Und umgekehrt.«
»Die Königin von Chinatown als Kindermädchen«, lachte Elihu kopfschüttelnd. »Wenn mir das jemand erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt!«
»Könnte mir mal einer erklären, weshalb alle Welt Miß Wang die Königin von Chinatown nennt?« fragte Jacob.
»Der Reverend wird Sie aufklären, Mr. Adler.« Susu Wang stand auf und nahm ihre kleine Freundin auf den Arm. »Ich bringe derweil Ma-Ling wieder ins Bett.«
»Erzählst du mir vor dem Einschlafen auch eine Geschichte?« bettelte das kleine Kind. »So wie früher?«
»Ja«, lächelte die Chinesin und strich zärtlich über Ma-Lings Haar. »Ganz so wie früher.«
Zufrieden lächelnd drückte das Kind sein Gesicht in die Falten von Susu Wangs Kleid.
Als die rätselhafte Chinesin mit Ma-Ling das Studierzimmer verließ, blickte Jacob ihr lange nach.
Die junge Frau gefiel ihm immer besser. Selbst eine perfekte Mutter schien sie, trotz ihrer Jugend, abzugeben.
»Shu-hsien - oder Susu, wie die Nicht-Chinesen sie wegen ihres schwer aussprechbaren Namens oft nennen - hat schon einiges erlebt«, begann Alister Hume seinen Bericht.
Er erzählte von dem Mineneinsturz, bei dem ihr Vater ums Leben kam.
»Da ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, war sie allein. Ich nahm sie hier auf, und später arbeitete sie in Sun Chengs Wäscherei. Sun Chengs Sohn war mit ihrem Vater befreundet und starb ebenfalls bei dem Einsturz.«
»Und dann?« fragte Jacob ungeduldig. »Wie wurde aus der kleinen Wäschereiangestellten eine geheimnisvolle Königin von Chinatown?«
»Was so unbegreiflich klingt, ist in Wahrheit furchtbar einfach, Mr. Adler, fast banal. Shu-hsien hat das Herz auf dem rechten Fleck, wie man so sagt. Sie hat viele Freunde in Chinatown und ist bei den meisten Menschen dort beliebt. Als der Hai in San Francisco auftauchte und seine Finger auch ins Chinesenviertel ausstreckte, war es ausgerechnet die junge, so unbedeutend erscheinende Wäschereiangestellte, die den Widerstand organisierte. Um sich und die ihr nahestehenden Menschen nicht in Gefahr zu bringen, nannte sie sich die Königin von Chinatown. Sie schlich sich als naive, die englische Sprache nicht richtig beherrschende Wäscherin im Golden Crown ein, wo sie die Bande des Hais vermutete.«
Hume lächelte versonnen, als erheitere ihn die doch so ernste Geschichte.
Dann wurde sein blasses Gesicht wieder ernst, und er fuhr fort: »Sie müssen wissen, daß die Chinesen ein richtiges Faible für Heimlichtuerei und Geheimbünde haben. Doch in diesem Fall war es alles andere als Spielerei oder Wichtigtuerei. Es gelang Shu-hsien tatsächlich, den Hai aufzuhalten. Und vielleicht gelingt es ihr sogar, ihn zur Strecke zu bringen. Sie ist ein kluges Mädchen, ich habe es schon immer gewußt.«
Aus Reverend Hume sprach der Stolz, den ein Vater für sein Kind empfand.
Ihm mußte wirklich etwas an Susu Wang liegen.
Das verwunderte Jacob nicht. Wer ein solches Unternehmen wie dieses Waisenhaus leitete, ohne die Menschen zu lieben, mit dem stimmte etwas nicht.
Plötzlich blickte Hume sehr finster drein, als er weitersprach.
»Allerdings kann Klugheit auch gefährlich sein. Die Ereignisse der heutigen Nacht haben es bewiesen. Ich hoffe und bete zum Herrn, daß Sun Cheng und seine Leute den
Überfall des Hais weitgehend heil überstanden haben!«
*
Er schneidet mich los! durchfuhr es Sun Cheng, als er das seltsam geformte Messer in der Hand des rattengesichtigen Mannes aufblitzen sah.
Er schneidet meinen Zopf ab, um mich zu befreien. Jetzt, wo ich ihm alles gesagt habe, stelle ich für ihn keine Gefahr mehr dar.
Auf einmal wußte der Chinese, was es für ein Messer war.
Sein alter Freund, der Schuhmacher Shi Tai-Po, besaß ein ähnliches.
Doch es blieb Sun Cheng rätselhaft, weshalb der Anführer der weißen Gangster ein Schusterwerkzeug mit sich herumtrug.
Mit der Erkenntnis, um was für ein Messer es sich handelte, kam auch die Erkenntnis, daß es keineswegs die Absicht des Weißen war, den Chinesen loszuschneiden.
Der kleine Mann war kein Menschenfreund, sondern einer, dem das Unglück anderer Vergnügen bereitete.
Sun Cheng sah es an dem Gesicht des anderen, das seine Vorfreude ausdrückte.
Die Vorfreude auf den Genuß, den hilflosen Chinesen sterben zu sehen.
Als sich die Klinge des Krummessers in seinen Hals grub, starb Sun Cheng mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
Ein schöner Gedanke verdrängte die Angst. Vielleicht, dachte er, würde er in der anderen Welt seine Frau wiedertreffen.
Fei-yen schrie bei dem Anblick ihres verblutenden Großvaters auf, als sei sie selbst von dem Messer getroffen worden.
Es war ein schreckliches Bild: Sun Chengs Kopf hing durch den eingeklemmten Zopf noch immer an der Wäschemangel, während das Blut aus der großen Halswunde strömte. Es benetzte seinen Kittel und bildete auf dem Boden eine ständig größer werdende Pfütze.
»Halt's Maul, du Schlampe!« schrie Charley Wagner und versetzte Fei-yen einen schmerzhaften Schlag mit dem Handrücken.
Doch er brachte die Chinesin nicht zum Verstummen. Zu tief saß der Schock über den sinnlosen Tod des Großvaters, der ihr in den letzten Jahren Vater und Mutter ersetzt hatte.
»Ich werde sie schon zum Schweigen bringen«, meinte Louis Bremer und ging, das Messer mit der blutigen Klinge noch in der Rechten, auf Fei-yen zu.
Bevor er das Mädchen erreicht hatte, erstarrte er. Von draußen drang Lärm herein.
Schreie und Schüsse.
Dann stürzte einer seiner neuen Männer in die Waschküche. Der kugelbäuchige Frenchy, der Steuermannsmaat auf dem gesunkenen Walfänger LUCIFER gewesen war.
Eine frische Wunde in Form einer blutigen Furche zog sich quer über seine Stirn. In der rechten Faust hielt er einen Joslyn-Revolver.
»Die verfluchten Chinesen kommen!« meldete Frenchy aufgeregt. »Von allen Seiten greifen sie uns an. Sieht so aus, als sei ganz Chinatown auf den Beinen.«
Bremer stieß einen obszönen Fluch aus und knurrte mit einem haßerfüllten Blick auf den toten Wäschereibesitzer: »Wir haben zuviel Zeit mit dem alten Narren vertrödelt. Die Schlitzaugen haben derweil den Gegenangriff organisiert.«
»Was machen wir jetzt, Boß?« fragte Al Winkler.
»Abhauen natürlich! Aber vorher räumen wir mit dem Pack hier auf!«
In dem Moment, als er das aussprach, kam Bewegung in die bis dahin so starren und fügsamen Gefangenen.