In dieser Nacht verwandelten Louis Bremer und seine Reiter Chinatown in ein brennendes Inferno.
*
Jacob Adler beneidete Elihu Brown um seinen schnellen und festen Schlaf.
Kaum hatten sich die beiden Menschen in das zweistöckige Bett der winzigen Kammer gelegt, die Mrs. Goldridge ihnen zugewiesen hatte, hörte der Deutsche von unten auch schon das laute, gleichmäßige Schnarchen des Harpuniers.
Jacob fand keinen Schlaf, obwohl er sehr erschöpft war.
Elihus heftiges Schnarchen war nicht schuld daran. Da hatte der junge Auswanderer auf seiner weiten Reise schon Schlimmeres erlebt.
Ihn hielt die Sorge um Irene und Jamie wach.
Der Versuch, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß Frau und Kind in dieser Nacht keine unmittelbare Gefahr drohte, wollte nicht ganz gelingen.
Ein Rest von Zweifel blieb.
Berechtigterweise, wie Jacob fand. Zu viele Unwägbarkeiten spielten in dieser Sache eine Rolle. Und der Hai schien unberechenbar zu sein.
Die sorgenvollen Gedanken ließen Jacob keine Ruhe finden. Immer wieder wälzte er sich in dem engen Bett von einer Seite auf die andere, ohne daß dies etwas an seiner inneren Unruhe änderte.
Daß er den vermutlichen Aufenthaltsort der Entführten kannte und trotzdem nichts unternehmen konnte, um sie aus den Klauen des Hais zu befreien, war eine Qual, die er fast körperlich spürte.
Elihus Schnarchgeräusch veränderte sich plötzlich. Zu dem Sägen und dem Rasseln, mit denen der Harpunier die Kammer schon eine geraume Weile erfüllte, gesellte sich eine Art leises Wimmern.
So hatte Jacob noch niemanden schnarchen gehört. Er hob den Kopf und spitzte die Ohren.
Das Wimmern war unzweideutig vorhanden, mal lauter, mal leiser.
Aber je länger der Deutsche ihm zuhörte, desto mehr bezweifelte er, daß der unter ihm schlafende Mann das seltsame Geräusch verursachte.
Dafür war es zu ungleichmäßig. Es ertönte beim Ausatmen des Seemanns und kurze Zeit später beim Einatmen. Mal mischte es sich in das Sägen, dann wieder in das Rasseln.
Das Wimmern war da, aber es schien nicht aus der kleinen Kammer zu kommen.
Jacob drehte sich herum und drückte ein Ohr an die Holzwand, die ihre Kammer von Susu Wangs Unterkunft trennte.
Er hatte sich nicht getäuscht. Jetzt hörte er das Geräusch deutlicher.
Es war unzweifelhaft das Weinen eines Menschen.
Hatte die junge Chinesin die Kammer nicht ganz für sich allein?
Als das Weinen kein Ende nahm, stieg Jacob aus dem Bett. Das Gestell knarrte und quietschte gehörig.
Doch Elihu zeigte keine Reaktion. Er schlief und schnarchte ungestört weiter.
Durch ein kleines Fenster fiel genügend Sternenlicht in die Kammer, daß Jacob sich zurechtfand.
Er zog Hemd und Hose an, verzichtete aber auf seine Stiefel. Schließlich wollte er nur zur Tür der Nachbarkammer gehen und Susu Wang fragen, was los sei.
Er sorgte sich um die Chinesin.
Obwohl er sie erst seit einigen Stunden kannte, hatte er ein Gefühl für sie entwickelt, das über bloße Dankbarkeit für die Befreiung aus der Gewalt des Hais weit hinausging.
Sie gefiel ihm sehr, nicht nur wegen ihres anziehenden Äußeren, sondern auch aufgrund ihrer Ansichten und Handlungen. Susu Wang war weder ein verschüchtertes, unselbständiges Heimchen am Herd noch eine arrogante Ziege. Ihr mitfühlendes Wesen und ihre zupackende Art machten sie zu genau dem Typ Frau, den Jacob mochte.
Auch Irene verkörperte diesen Typ.
Sonst hätte sich die junge Deutsche niemals allein auf den weiten Weg nach Amerika begeben.
Und sonst hätte Jacob kaum solch starke Gefühle für Irene entwickelt.
Der Gang, eng wie fast alles in dem schmalen Haus, war menschenleer.
Eine schwache Lampe am anderen Ende tauchte ihn in ihren unwirklichen Schein. Es sah aus wie die Szenerie in einem Traum.
Leise klopfte Jacob an die Nebentür.
Er wollte niemanden stören, denn an dem Gang lagen noch weitere Kammern, Schlafplätze der Waisenkinder.
Und er wollte die Chinesin nicht erschrecken.
Keine dreißig Sekunden nach seinem Klopfen zog Susu Wang die Tür auf.
Trotz des Weinens, das seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, wirkte sie schön und begehrenswert.
Vielleicht noch mehr als sonst, weil sie nur ein dünnes Nachthemd aus bunt bemalter Seide trug. Es schmiegte sich so eng an ihren schlanken Körper, daß sich jede ihrer fraulichen Formen deutlich abzeichnete.
Ihr offensichtlicher Kummer weckte Jacobs männlichen Beschützerinstinkt.
In diesem Augenblick wäre er Susu Wang verfallen, wäre sie eine Frau gewesen, die auf so etwas Wert legte.
»Entschuldigen Sie die Störung, Miß Wang«, begann er umständlich, nach den richtigen Worten suchend. »Ich habe Geräusche gehört. Sie haben wohl geweint. Da wollte ich nachsehen und fragen.«
»Komm herein«, unterbrach sie ihn und zog die Tür noch weiter auf.
Irritiert betrat Jacob die schmale Kammer, die sich in nichts von der anderen Unterschied.
Auch ihr Haupteinrichtungsstück war ein doppelstöckiges Bett. Nur das untere Bett war belegt gewesen, von Susu Wang.
Jetzt waren das Kissen, die Decke und das Laken völlig zerwühlt. Ähnlich hatte Jacobs Bett ausgesehen, als er herausstieg.
Seine Irritation gründete sich auf den vertraulichen Tonfall der Chinesin.
Trotz ihrer unziemlichen Bekleidung schien sie sich nicht vor dem fremden Mann zu genieren.
Sie wirkte von seinem Erscheinen weder befremdet noch sonderlich überrascht. Im Gegenteil, fast schien es so, als hätte sie ihn erwartet.
Hinter Jacob schob sie die Tür zu, drehte sich zu ihm um und sagte: »Es ist schön, daß du nach mir siehst, Jake.«
Sie sprach ihn mit der amerikanisierten Abkürzung seines Vornamens an, wie es auch Elihu tat.
Es störte den Deutschen nicht. Er empfand im Gegenteil ein Glücksgefühl über die Vertrautheit, die plötzlich zwischen ihm und der Frau bestand.
»Manche Menschen sagen, trauern kann man nur für sich allein«, sagte die Chinesin.
Sie schüttelte leicht den Kopf.
Ihr schwarzes, seidig glänzendes Haar, das sonst hochgesteckt war, fiel jetzt über ihre Schultern.
Die Kopfbewegung versetzte es in eine Wellenbewegung. Wie sanfter Seegang.
»Ich glaube das nicht«, fuhr sie fort. »Ich habe es nie geglaubt und auch nie so empfunden. Auch damals nicht, als mein Vater gestorben war. Ich war froh, daß es Menschen gab, die sich um mich kümmerten. Die mich nicht allein ließen mit meinem Schmerz. Reverend Hume, Mrs. Goldridge und Sun Cheng.«
Sie trat auf den Besucher zu und legte mit einer vollkommen selbstverständlich wirkenden Geste ihre schmalen Hände auf seine breiten Schultern.
Ihr exotischer Duft hüllte ihn ein.
Ihre Wärme, die zu seiner wurde, durchflutete seinen Körper und erfüllte ihn mit einem wohligen Kribbeln.
Sie hob ihr schmales Gesicht, und die schrägstehenden Katzenaugen blickten direkt in Jacobs grünbraune Augen. In ihren Pupillen lag der Schimmer von Smaragden.
»Und jetzt bin ich mehr als froh, daß du mich nicht mit meiner Trauer allein läßt, Jake. Ich weiß nicht, ob ich dich erwartet habe. Aber ich weiß genau, daß ich mich nach dir sehnte.«
Jacob wollte antworten, mußte dazu aber mehrmals ansetzen. Sein Mund und seine Kehle waren plötzlich knochentrocken. Als hätte er eine ganze Handvoll Staub geschluckt.
»Warum trauerst du, Shu-hsien?«
Er bemühte sich, ihren richtigen Namen einigermaßen korrekt auszusprechen.
Es schien ihm auf einmal unangemessen, sie >Susu< zu nennen. Das taten fast alle anderen Weißen.
Aber zu denen gehörte er jetzt nicht mehr. Für die junge Frau war er etwas Besonderes.
Das hatte sie ihm eben deutlich zu verstehen gegeben. Und sie war genauso etwas Besonderes für ihn.
»Ich weine um Sun Cheng«, erklärte sie mit leiser Stimme.