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Was er für Sun Cheng nicht mehr hatte tun können, wollte Shi Tai-Po wenigstens für die Enkelin des Freundes vollbringen: sie retten!

»Danke«, japste die ältere Frau den Männern beim Laufen zu und sah sich dann suchend um.

Doch wohin sie auch blickte, überall bot sich ihr das gleiche Bild.

Fliehende Menschen.

Die meisten zu Fuß.

Ein paar auf Eseln, Maultieren oder Pferden.

Einige mit Karren, auf denen sie fuhren oder ihre Habe transportierten.

Überall um sie herum war Feuer.

So hell, daß die Nacht zum Tag wurde.

Und so heiß, daß die Körper der Menschen dick mit Schweiß bedeckt war.

Im Schweiß verklebte sich die Asche, die in unzähligen winzigen Partikeln durch die Luft flog.

So sahen viele der ängstlichen, abgehetzten Gesichter aus wie mit Kohle geschwärzt.

»Wir müssen weit laufen, bis wir bei unseren Brüdern und Schwestern Aufnahme finden«, keuchte die ältere Frau, die Mühe hatte, mit Vater und Sohn Schritt zu halten. »Im näheren Umkreis scheint alles ein Raub der Flammen zu werden.«

»Nicht nur im näheren Umkreis«, erwiderte Shi Tai-Po bitter.

Er machte eine knappe und dennoch weit ausholende Handbewegung.

»Siehst du nicht, daß dort überall Brandherde sind? Ganz Chinatown steht in Flammen!«

Mit wachsendem Entsetzen folgte der Blick der Frau Shi Tai-Pos kreisender Hand.

Sie erkannte, daß der alte Schuster die Wahrheit sprach.

Und dennoch sträubte sich alles in ihr dagegen, die neue Heimat, die sie und ihre Landsleute sich in der Stadt am Golden Gate geschaffen hatten, für verloren anzusehen.

Wie konnte das, was der Menschen Hände in harter Arbeit über viele Jahre hinweg aufgebaut hatten, in einer einzigen Nacht einfach verschwinden?

»Die Feuerwehr wird uns retten!« rief sie beschwörend. »Hörst du nicht die Stadtglocke, Meister Shi? Sie schlägt Feueralarm!«

Auch Shi Tai-Po hörte das schwere Läuten der großen Glocke, das in einer monotonen Melodie den vielgestaltigen Lärm des brennenden Infernos übertönte.

Es war dieselbe Melodie, die schon die vergangene Nacht durchdrungen hatte. Sie rief die Feuerwehrkompanien zum Einsatz nach Chinatown.

Jeder Stadtteil von San Francisco hatte seinen besonderen Code. So wußten die Löschzüge sofort, wohin sie ausrücken mußten.

Dieser Code hier wurde in letzter Zeit überstrapaziert.

»Ja, die Stadtglocke schlägt Alarm«, erwiderte Shi Tai-Po ohne jede Spur von Hoffnung. »Die weißen Feuerwehrmänner werden nach Chinatown kommen, um die Flammen zu bekämpfen, die andere weiße Männer gelegt haben. Aber sie werden zu spät kommen. Chinatown ist verloren!«

»Warum?« fragte die Frau, vom Unglauben der Verbohrtheit besessen. »Gestern sind sie auch rechtzeitig genug gekommen, um das Feuer zu löschen!«

»Gestern waren sie auch vorgewarnt, durch die Königin von Chinatown.«

»Wang Shu-hsien«, flüsterte die Frau.

»Ja«, nickte Shi Tai-Po. »Wang Shu-hsien. Sie hat den Hai von Frisco bespitzelt und ist hinter seinen Plan gekommen.«

Während er weiterlief, blickte der alte Chinese traurig in die Runde.

Obwohl sie sich zwei Querstraßen von Sun Chengs Haus entfernt befanden, hatte sich die Szenerie kaum verändert.

Die Menschen flohen und lieferten sich dabei einen Wettlauf mit den nacheilenden Flammen.

Als sei sie richtig auf den Geschmack gekommen, sprang die Lohe von Dach zu Dach, von Haus zu Haus.

Nichts wollte sie übrig lassen von der verwinkelten Stadt der Chinesen.

»Ich weiß nicht, ob das Feuer in dieser Nacht geplant gewesen ist«, fuhr der chinesische Schuhmacher fort. »Jedenfalls hat es Chinatown zu schnell erfaßt, um noch von der Feuerwehr gelöscht zu werden. Die Stadtglocke läutet zwar, doch bis die Löschzüge hier eintreffen, wird alles zu spät sein. Die Weißen können froh sein, wenn es ihnen gelingt, die Flammen von ihren eigenen Vierteln fernzuhalten. Aber uns zu helfen, selbst wenn sie es versuchen, das wird ihnen nicht gelingen!«

In seiner Stimme schwang Trauer mit, aber auch Bestimmtheit. Die Weisheit des Alters ließ ihn erkennen, daß man sich mit der Wahrheit abfinden mußte, mochte sie auch noch so unangenehm sein.

Die einfache Frau aber sah das nicht ein - weil sie es nicht erkennen wollte und nicht erkennen konnte.

Ihre Gedanken hatten sich ein ganzes Leben lang um nichts anderes gedreht als darum, die Wäsche ihrer Familie gewaschen und getrocknet zu kriegen und genug Reis, Gemüse und Fleisch in Töpfen und Wok zu haben.

Wie sollte sie jetzt begreifen, daß die Boshaftigkeit einiger weniger Menschen das Glück und die Lebensgrundlage von Tausenden innerhalb von Stunden zerstören konnte?

Sie blieb plötzlich stehen, dachte an ihre Lieben, die sie in der nächtlichen Aufregung verloren hatte, preßte die Hände gegen ihren Kopf und begann laut zu schreien.

Ihr Kreischen übertönte das Prasseln des Feuers und den Lärm der fliehenden Menschen.

Ihre weit aufgerissenen Augen, die ins Leere zu blicken schienen, spiegelten den Wahnsinn wieder. In ihn hatte sich die Frau geflüchtet, weil die Wahrheit zu schrecklich war, als daß die Chinesin sie hätte ertragen können.

Auch die beiden Männer hielten an und drehten sich zu der Frau um.

Deren schreckliche Schreie ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren.

Nur Fei-yen, die noch immer über Shi Yangs Schulter lag, wirkte weiterhin unbeteiligt. Das war ihre Art, sich gegen das Erkennen der schrecklichen Wahrheit zu schützen.

»Vater, sieh!« rief Shi Yang und zeigte mit der freien Hand zu dem Haus, vor dem die schreiende Frau stand.

Auch dieses Haus brannte schon. Mit jeder Sekunde breiteten sich die Flammen weiter aus, leckten über das Dach und durch die Fenster.

Die ältere Chinesin stand unter einem großen Vordach, das den Eingangsbereich vor Regen schützen sollte. Die beiden hölzernen Säulen, die das Vordach trugen, wurden vom Feuer angefressen und standen in Sekundenschnelle in ihrer ganzen Länge in Flammen. Wie riesige Fackeln.

Shi Tai-Po wollte die Frau,, die er schon seit vielen Jahren als Nachbarin und Kundin kannte, noch warnen.

Aber dazu kam er nicht mehr. Außerdem war es fraglich, ob er ihren Wahnsinn hätte durchdringen können.

Die beiden Säulen knickten ein.

Das große Vordach brach über der Frau zusammen, begrub sie unter Trümmern.

Es war unheimlich: Aber selbst nach Einsturz des Daches glaubte Shi Tai-Po, noch die schrillen Schreie der Frau zu hören.

»Hörst du das auch?« fragte er seinen Sohn.

Der nickte eifrig.

»Die Frau lebt noch, Vater. Wir müssen sie retten!«

Shi Yang legte Fei-yen vorsichtig zu Boden und wollte zu dem Haus laufen.

Dort brannte inzwischen die gesamte Vorderfront, und große Trümmerstücke regneten herab.

»Nicht, Yang!« schrie der alte Schuster, voller Sorge um seinen Sohn. »Es hat keinen Sinn. Das Haus stürzt gleich ganz zusammen.«

Shi Yang blieb stehen, zögerte.

Sein Blick pendelte zwischen den brennenden Trümmern und seinem Vater hin und her. Die Schreie, die aus den Trümmern kamen, wurden leiser.

»Aber die Frau!«

»Wir müssen auch an uns denken«, erwiderte der Vater und blickte auf das am Boden liegenden Mädchen. »Und an Feiyen. Ich bin zu alt, zu schwach, um sie zu tragen. Ohne deine Hilfe, mein Sohn, ist sie verloren.«

Shi Yang blickte sich um und erkannte, daß das Feuer aufholte. Wenn die beiden Männer und das Mädchen ihren Weg nicht rasch fortsetzten, verloren sie den Wettlauf um ihr Leben.

Nach einem letzten Blick auf das brennende Haus drehte der junge Chinese um und nahm seine atmende, lebende und doch reglose Last wieder auf.

»Es war die richtige Entscheidung, mein Sohn«, sagte Shi Tai-Po, als sie nebeneinander liefen.