Dann würde alles andere - Treppen, Zwischenwände, Böden und Möbel - dem nicht zu zügelnden Appetit zum Opfer fallen.
Jacob nahm sich das Stockwerk vor, in denen die Kammern lagen, die Mrs. Goldridge ihm, Elihu und Shu-hsien zugeteilt hatte.
Als er die Wendeltreppe hinaufstürmte, warnte ihn etwas. Vielleicht ein Geräusch, das sein Unterbewußtsein richtig einordnete.
Mit einem Hechtsprung warf er sich bei Erreichen des oberen Treppenabsatzes zur Seite.
In letzter Sekunde.
Ein schwerer Balken stürzte von der Decke, schlug mit ohrenbetäubendem Krachen auf der Treppe auf und zerstieß splitternd die drei obersten Stufen.
Staub und Rauch erfüllte den Gang und erschwerte die Sicht erheblich.
Der Balken hätte den Auswanderer unter sich begraben und ihm wohl alle Knochen im Leib gebrochen. Ein Schauer überfiel Jacob bei dem Gedanken.
Er schüttelte das üble Gefühl von sich ab und stand auf. Nur, um im selben Moment wieder zu Boden geworfen zu werden.
Sein erster Gedanke war, daß das Dach jetzt vollends zusammenbrach.
Das Haus stürzte viel schneller in sich zusammen, als er erwartet hatte.
Sollte sich der geübte Zimmermann so sehr in der Einschätzung des Bauzustandes getäuscht haben?
Aber es war nicht das Dach.
Der mit dem Gesicht nach unten auf dem Gang liegende Auswanderer erkannte dies auf schmerzhafte Weise, als sich zwei kräftige Hände um seinen Hals legten.
»Hab ich dich, du Schwein!« keuchte eine erregte Stimme, und Jacob spürte heißen Atem in seinem Nacken. »Ich mache dich fertig, Dreckskerl!«
Jacob erkannte die Stimme!
Aber er konnte nicht antworten.
Die Hände lagen so eng um seine Kehle und drückten immer fester zu.
Er konnte kaum noch atmen, geschweige denn sprechen.
Er sammelte alle seine Kräfte an und bäumte sich auf. Der Angreifer fiel von ihm ab.
Jacob wirbelte herum und sah, daß der andere Mann die Rechte zur Faust geballt hatte.
»Nicht«, krächzte Jacob, als die Faust auf ihn zuflog.
Mehr konnte er nicht sagen. Das heftige Stechen in seiner Kehle machte es unmöglich.
Im letzten Augenblick erkannte der Angreifer seinen Irrtum und stoppte die große kräftige Faust.
»Jake!« rief Elihu überrascht aus. »Ich habe dich nicht erkannt...«
»Das habe ich gemerkt«, erwiderte der Auswanderer mit unnatürlich rauher Stimme.
Das Stechen in der Kehle war so unangenehm, daß er sie mit einer Hand massierte.
Es half nur wenig.
»Der Staub und der Rauch«, meinte der vollbärtige Harpunier entschuldigend. »Man sieht kaum etwas. Ich hielt dich für einen von Bremers Männern, der zurückgekehrt ist, um mich zu erledigen. War froh, daß ich gerade meine Fesseln lösen konnte. Ich dachte, die Burschen wollten sichergehen, daß jeder lästige Mitwisser ausgeschaltet ist. Für den Fall, daß das Feuer das nicht besorgt.«
»Feuer ist das Stichwort«, erwiderte Jacob. »Wir müssen uns um die Kinder kümmern!«
Sie liefen in die Schlafräume.
Die meisten der Kinder waren durch den ungewöhnlichen Lärm aufgewacht.
Aber kaum eines traute sich hinaus auf den Gang. Aus Angst vor dem Feuer oder vor den fremden Männern, deren Stimmen sie gehört hatten.
Jacob beruhigte sie mit dem Hinweis, er sei ein Freund von Shu-hsien. Viele hier kannten die Chinesin noch.
Die beiden Männer versammelten die Kinder auf dem oberen Treppenabsatz.
Die zerstörten Stufen und der quer über der Treppe liegende brennende Balken erschwerten das Durchkommen.
Jacob und Elihu zogen ihre Hemden aus und schlugen damit das Feuer aus.
Die größeren Kinder konnten dann ohne Hilfe über das Hindernis hinwegsteigen. Die kleineren wurden von den beiden Männern hinübergehoben.
Sie mußten sich beeilen. Immer größere Teile der Dachkonstruktion stürzten ein. Die Kinder schrien vor Angst und Schreck.
Aber dann war es geschafft, und alle liefen eilig die Treppe hinunter.
Immer wieder stürzten die Kinder in ihrer panischen Hast. Andere stolperten über die Gestürzten. Es bildeten sich wahre Knäuel kleiner Leiber, die die enge Treppe verstopften. Jacob ermahnte die Kinder zur Vorsicht.
Als die ganze Gruppe endlich im Erdgeschoß war, prallten die vordersten Kinder zurück.
Der Eingangsbereich brannte lichterloh. Es war ein einziges Prasseln und Knacken. Der Raum war erfüllt von unerträglicher Hitze und beißendem, tränentreibendem Rauch.
»Verflucht«, knurrte Elihu. »Was machen wir jetzt?«
»Die Feuerwehr rufen«, antwortete Jacob.
Er legte die Hände trichterförmig vor dem Mund und schrie nach dem Captain von Social Three.
Nach wenigen Sekunden meldete sich die megaphonverzerrte Stimme des Captains: »Ich höre Sie. Wir haben Sie schon vermißt. Sie sind die letzten.«
»Wir können nicht hinaus«, rief der Auswanderer. »Der Eingang steht ihn Flammen. Halten Sie die Spritze drauf, Captain!«
»Wird gemacht«, versprach der Captain.
Sie hörten die Anweisungen, die er mittels seiner vergoldeten Flüstertüte rief.
Kurz darauf erschraken die Kinder, als sich der Rauch noch verstärkte und ein heftiges Zischen durch den Raum hallte.
»Keine Angst«, versuchte Jacob ihnen Mut zu machen. »Es ist das Wasser. Gleich können wir nach draußen!«
Der kräftige Wasserstrahl löschte die Flammen zwar, doch immer wieder flackerten sie auf. Immerhin bildete sich eine kleine Lücke in der Feuersbrunst.
»Das muß reichen«, meinte Elihu. »Besser wird's wohl nicht, Jake.«
Der Auswanderer nickte und rief den Kindern zu: »Lauft jetzt, schnell! Aber seid vorsichtig und fallt nicht hin!«
Niemand rührte sich. Wie versteinert standen die Kinder in ihren weißen Nachthemden vor den Flammen und starrten sie an wie böse Geister.
Die Angst vor dem Feuer war zu groß. Zwar bedeutete das Verbleiben im Haus den sicheren Tod. Doch die Angst versagte den Kindern diese Erkenntnis.
Mehrmals versuchten die beiden Männer, die etwa fünfzehn Kinder durch aufmunternde Rufe anzutreiben.
Alles war vergebens.
Da schnappte Jacob sich einen kleinen Jungen, preßte ihn mit dem Gesicht fest gegen sich und rannte los.
Er erreichte das Feuer.
Sein nackter Oberkörper war ein willkommenes Opfer für Funkenflug und Flammenzungen.
Aber seine Schmerzen waren jetzt unwichtig.
Nur hindurch!
Da, endlich konnte er frei atmen.
Er war auf der Straße.
Das Feuer lag hinter ihm!
Shu-hsien lief auf ihn zu und nahm ihm das Kind ab.
Die Chinesin lächelte Jacob an, glücklich darüber, daß der geliebte Mann den Flammen entkommen war.
»Schaut, da kommen sie!« rief Reverend Hume.
Jacobs Beispiel hatte die Kinder aus ihrer Erstarrung gerissen.
Eins nach dem anderen kamen sie aus dem brennenden Haus gelaufen.
Zuletzt tauchte Elihus massige Gestalt auf der Straße auf, in seinen Armen ein kleines Negermädchen.
Hume und Mrs. Goldridge kümmerte sich um ihre Schützlinge und zählten sie durch.
»Sind alle da?« erkundigte sich der walroßbärtige Feuerwehr-Captain.
»Ja, ich glaube schon«, antwortete der Reverend. »Ich hoffe, ich habe mich in der Aufregung nicht verzählt!«
»Wo ist denn Ma-Ling?« fragte Shu-hsien.
»Ma-Ling?« echote Hume. »Ja, ist sie denn nicht hier?«
»Ich habe sie noch nicht gesehen«, erwiderte die junge Chinesin und ließ ihren Blick über die Kinderschar schweifen.
Der Reverend wandte sich an die Köchin.
»Mrs. Goldridge, haben sie Ma-Ling gesehen?«
»N-nein«, antwortete die rundliche Frau zögernd. »Ich glaube nicht.«
Shu-hsien rief laut den Namen der Vermißten.
Da lief ein kleiner sommersprossiger Junge vor und sagte: »Ma-Ling ist nicht mitgekommen.«