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Jacob Adlers Gedanken überstürzten sich, waren ein Chaos wie das unfaßbare Geschehen, das der junge Auswanderer und die beiden anderen Menschen durch das einzige Fenster des großen Raums beobachteten.
Dort unten tobte der hemmungslose Kampf Mann gegen Mann.
Weiße gegen Chinesen.
Feuerwaffen gegen Holzstangen oder bloße Fäuste.
Die Menschen an der Seite des hünenhaften Deutschen waren ein bärtiger Mann und eine junge Chinesin.
Der Mann hieß Elihu Brown. Jacob hatte den massigen Harpunier auf dem Walfänger LUCIFER kennengelernt und schnell Freundschaft mit ihm geschlossen.
Was diese Freundschaft wert war, bewies Elihu durch sein Angebot, dem Deutschen bei der Suche nach Irene Sommer und ihrem kleinen Sohn Jamie zu helfen.
Die Frau und das Kind, deren Begleitung und Schutz Jacob übernommen hatte, waren von dem geheimnisvollen Mann verschleppt worden, dessen Identität niemand zu kennen schien und den alle nur furchtsam den Hai von Frisco nannten.
Die Bekanntschaft der neben ihm stehenden Frau hatte Jacob erst vor wenigen Minuten gemacht. Sie hieß Susu Wang, aber wie sie eben gesagt hatte, nannte man sie auch die Königin von Chinatown.
Wer sie war und weshalb sie Jacob und Elihu aus der Gewalt des Hais befreit hatte, interessierte den Auswanderer natürlich brennend. Doch bevor er die bildhübsche Chinesin danach fragen konnte, hatten die schwerbewaffneten Weißen die Wäscherei in Chinatown angegriffen, in die Jacob und sein Freund auf Susu Wangs Geheiß gebracht worden waren.
Die Chinesin selbst hatte gesagt, die Angreifer seien die Männer des Hais, die ihr gefolgt wären.
Oder waren sie Jacob und Elihu auf der Spur?
Letztlich blieb es sich gleich. Wichtig war nur, daß ihr Erscheinen in Sun Chengs Wäscherei alles andere als ein Höflichkeitsbesuch war.
Die Männer, die dort unten auf dem Hof, verwundet oder tot, zusammenbrachen, bewiesen es auf grausame Weise.
»Kommen Sie endlich!« wiederholte Susu Wang ihre Aufforderung. »Wir müssen verschwinden!«
»Das Girl hat recht!« knurrte der Harpunier und zog den Revolver, der einem der beiden Männer gehört hatte, die im Auftrag Louis Bremers auf Jacob und Elihu aufpassen sollten. »Es gibt nur eine Tür. Wenn die Kerle erst mal hier oben sind, sitzen wir in der Falle wie ein Pottwal in einer engen Bucht.«
Alle drei liefen zur Tür.
Auch Jacob hatte seine erbeutete Waffe zur Hand genommen, einen Allen & Wheelock Seitenhammer-Revolver.
Fast hätte er auf den Mann geschossen, der die Treppe heraufgestürmt kam.
Der Deutsche hatte den seitlich angebrachten Hahn bereits zurückgezogen, da erkannte er den graubärtigen Chinesen. Es war Sun Cheng, der Besitzer der Wäscherei, der Jacob und Elihu empfangen und bewirtet hatte.
Die maskenhafte Unerschütterlichkeit war aus dem faltigen Gesicht des alten Mannes gewichen. Besorgt glitt sein Blick über die drei Menschen und blieb auf der Frau haften.
»Du und deine Begleiter seid in Gefahr, Shu-hsien!«
Die schlanke, ungewöhnlich große Chinesin nickte dem Alten knapp und mit ernster Miene zu.
»Wir haben es gehört und gesehen, Sun Cheng.«
»Leider waren wir nicht auf den Überfall vorbereitet«, sagte der Wäschereibesitzer. »Wir wurden überrascht. Und wir sind nicht zahlreich genug, die Männer des Hais zurückzuschlagen. Meine Leute tun alles, was in ihren Kräften steht - aber sie werden es nicht schaffen. Ihr müßt fliehen, solange noch Zeit ist!«
»Sind die Angreifer nicht schon im Haus?« fragte Jacob.
»Doch«, bestätigte der Alte. »Aber der Weg durch die Wäscherei ist noch frei - hoffe ich. Folgt mir!«
Mit einer für sein Alter erstaunlichen Behendigkeit lief Sun Cheng die Treppe hinunter. Susu Wang, Jacob und Elihu folgten ihm.
Unten waren die Schüsse und Schreie noch lauter.
Die Wäscherei war von dichten, die Sicht einschränkenden Dämpfen erfüllt.
Dafür hörten die vier Menschen beim Betreten des großen Arbeitsraums die Schreie um so lauter.
Sun Chengs Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Zeitgleich drangen die Angreifer durch einen anderen Eingang in die Waschküche ein.
Schüsse fauchten durch den Raum. Kugeln klatschten irgendwo gegen Wände oder Waschkessel und jaulten als Querschläger davon. Eine pfiff so dicht an Jacob vorbei, daß er ihren Luftzug spürte.
Dann tauchte ein Gesicht aus den Dampfschwaden auf. Ein unrasiertes, knochiges Gesicht. Jacob erkannte den Mann. Er hieß Ed und war einer der beiden Wächter, die den Deutschen und Elihu im Lagerschuppen am Golden Crown bewacht hatten.
Ed riß einen Karabiner hoch, legte auf Jacob an. Aber der Auswanderer war schneller und jagte kurz hintereinander zwei Kugeln aus dem Lauf seines Allen & Wheelock.
Der Mann namens Ed brüllte vor Schmerz auf und sackte zusammen. Mehr sah Jacob nicht von ihm. Die wilde Flucht zwischen Kesseln und Wäschemangeln hindurch ließ ihm keine Zeit.
»Hierher!« rief Sun Cheng, der an einer Wand stand und sich dort zu schaffen machte.
Was er tat, konnte Jacob nicht erkennen. Dort schien es nichts Wichtiges zu geben. Nur ein riesiges Holzgestell, das bis an die Decke reichte. Große Laken hingen dort zum Trocknen.
Als der Auswanderer das Gestell erreichte, schwenkte es plötzlich ein Stück zur Seite. Weit genug, um einen Menschen durchzulassen.
»Ein verborgener Ausgang«, erklärte der alte Chinese. »Schnell, hindurch.«
Jacob, Elihu und Susu Wang zwängten sich an ihm vorbei in den dunklen Gang.
»Was ist mit dir?« fragte die Chinesin den Alten. »Kommst du nicht mit?«
Der Wäschereibesitzer schüttelte den Kopf.
»Ich kann meine Leute nicht im Stich lassen. Und auch nicht Fei-yen.« Sun Cheng blickte suchend, gehetzt in den wabernden Dunst der Waschküche. »Ich muß sie finden. Ich weiß nicht, wo sie steckt.«
»Wer ist Fei-yen?« fragte Jacob.
»Das Mädchen, das euch das Essen aufgetragen hat«, antwortete der alte Mann.
Susu Wang fügte hinzu: »Sie ist Sun Chengs Enkelin.«
»Geht jetzt!« drängte der Graubärtige. »Geht zu Reverend Hume. Er wird euch aufnehmen. Außerhalb von Chinatown ist es jetzt am sichersten für euch. Der Hai wird alle Mittel einsetzen, euch hier zu finden.«
»Ein guter Vorschlag«, fand Susu Wang.
Sun Cheng drückte auf einen in der Wand verborgenen Mechanismus, und das mit dicken großen Laken behangene Wandgestell verschloß den Durchgang wieder.
Es umhüllte die Chinesin und ihre beiden weißen Begleiter mit Dunkelheit und verbarg sie vor den Augen der Männer, die Sun Chengs Haus mit Waffengewalt stürmten.
»Vorwärts!« rief Susu Wang im Flüsterton.
Jacob tastete sich als erster durch den Gang, der so niedrig war, daß sich der großgewachsene Deutsche gehörig bücken mußte. Außerdem war der Gang so eng, daß nicht zwei Menschen nebeneinander Platz fanden. Also folgte Elihu Brown dem Freund, und die Chinesin bildete den Schluß der kleinen Gruppe.
Obwohl es stockdunkel war, war die Richtung keine Frage: Es gab nur eine.
Der junge Zimmermann spürte einen beständig stärker werdenden Luftzug an seinem Gesicht. Das mußte der Ausgang sein, dem sie sich näherten.
Er bog um eine Ecke und sah einen hellen Schimmer. Schließlich stieß er gegen Äste und Blattwerk.
Gesträuch tarnte den Durchgang von draußen.
»Ziemlich eng«, stöhnte Jacob, als er sich hindurchzwängte. Es war nur ein kleines Loch, durch das er kriechen mußte.
»Der Fluchtweg ist für meine Landsleute gebaut«, erklärte Susu Wang. »Chinesen sind nicht so groß und breitschultrig wie Sie, Mr. Adler.«
»Wohl wahr«, stöhnte Jacob, der nicht mehr vor und nicht mehr zurück konnte. »Verflucht, ich stecke fest!«