Er blickte in ihre kleinen Augen und sagte: »Wir springen gleich aus dem Fenster, Ma-Ling. Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Unten stehen Männer, die uns auffangen.«
Das Mädchen sah ihn ernst an und nickte.
Er hielt das Kind hinaus und gab acht, daß es sich genau über dem Tuch befand, als er losließ.
Er hielt den Atem an und sah dem Kind hinterher.
Ma-Ling fiel genau in die Mitte.
Erleichtert atmete Jacob auf.
Die Männer von Social Three senkten das Tuch, und einer hob das Kind aus den Falten.
Sofort spannten sie das Rettungstuch wieder auf.
»Jetzt Sie, Mister!« scholl es zu Jacob herauf.
Jacob hatte Zweifel, daß das Tuch ihn aushielt. Er war viel schwerer als das kleine Chinesenmädchen.
Er warf einen Blick über seine Schulter. Die Flammen hatten bereits den Gang erreicht.
Es gab keinen anderen Ausweg für ihn.
Er konnte nur verbrennen oder sich vielleicht das Genick brechen.
Verbrennen war bestimmt kein schöner Tod. Das andere ging wenigstens schnell.
Also sprang er. Das Gefühl des freien Falls war seltsam, völlig ungewohnt.
Die brennende Fassade flog an ihm vorbei.
Dann der Aufprall, federnd.
Er wurde herumgewirbelt.
Aber der Schmerz, auf den er sich eingerichtet hatte, blieb aus.
Das Tuch hielt!
»Das war zirkusreif, Mister«, sagte einer der Feuerwehrmänner, der ihm auf die Beine half.
»Ja«, keuchte der erschöpfte Auswanderer. »Wie wahr.«
Und er dachte wieder an den geschmückten Schimmel.
»Jetzt aber nichts wie weg hier!« sagte der Mann mit dem Goldhelm. »Das Haus kann jeden Augenblick einstürzen.«
Jacob hob Ma-Ling hoch und lief mit den Feuerwehrmännern fort.
Er mußte in dieser Nacht wirklich einen guten Schutzengel haben.
Hinter ihnen sank Reverend Humes Waisenhaus unter einem ohrenbetäubenden Getöse in sich zusammen.
Funken sprühten nach allen Seiten. Brennende Trümmer flogen wie Geschosse durch die Luft. Sie verfehlten die fliehenden Männer nur knapp.
*
Shu-hsien rief ihnen strahlend entgegen.
Erleichtert schmiegte sie sich an den großen Mann und das Kind auf seinen Armen.
Für ein paar kostbare Augenblicke fühlte Jacob sich wie ein glücklicher Familienvater.
»Das war unser Heim«, flüsterte Reverend Hume mit brüchiger Stimme.
In seinen Augen lag ein feuchter Schimmer, als er die brennenden Trümmer seines Waisenhauses betrachtete.
»Man kann es wieder aufbauen«, sagte Jacob. »Wozu habe ich das Zimmermannshandwerk gelernt?«
»Ich fürchte, ich habe kein Geld um einen Zimmermann zu bezahlen«, erwiderte der Reverend.
»Und ich fürchte, Sie haben mich mißverstanden, Reverend. Von Geld war nicht die Rede.«
»Danke«, sagte Hume und legte eine Hand auf Jacobs Arm. »Der Herr wird es Ihnen lohnen, Mr. Adler.«
Der Reverend seufzte und blickte wieder auf das Haus. Seine Augen blickten nicht mehr ganz so traurig.
»Sie haben recht, man kann es wieder aufbauen!«
Der Feuerwehr-Captain trat zu ihnen und sagte düster: »Dieses Haus vielleicht, aber ganz Frisco?«
»Wie meinen Sie das, Captain?« fragte Hume.
»Sehen Sie sich doch mal um!« forderte der Captain.
Jetzt bemerkten die anderen, was er meinte. Das Feuer hatte sich auf weitere Stadtteile ausgebreitet.
Obwohl es Nacht war, lag ein fast taghelles Leuchten über San Francisco.
Das Leuchten der Zerstörung.
»Ich glaube nicht, daß das noch aufzuhalten ist«, meinte der Captain niedergeschlagen. »Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird die ganze Stadt in Flammen aufgehen!«
ENDE des 2. Teils
Und so geht das Abenteuer weiter
Frühjahr 1864. San Francisco brennt! Feuer und Rauch verwandeln die Stadt am Golden Gate in einen Ort des Schreckens. Tausende Menschen laufen durcheinander, und ihr vielsprachiges Geschrei übertönt das Knistern der gefräßigen Flammen und das Zusammenkrachen ausgebrannter Gebäude.
In Chinatown war die Feuersbrunst ausgebrochen, die sich nun fast über die halbe Stadt erstreckt. Auch der unermüdliche Einsatz der zahlreichen Feuerwehrkompanien kann den Brand nicht aufhalten. Die Schuld an der Katastrophe tragen Louis Bremer und seine Gangsterbande, die für den geheimnisvollen >Hai von Frisco< arbeiten. Auf der Jagd nach dem deutschen Auswanderer haben sie das Feuer entzündet. Jacob Adler sollte sterben! Jetzt ist eine ganze Stadt dem Tode geweiht.
SCHRECKENSNACHT AM GOLDEN GATE von J.G. Kastner