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»Warte, Jake, ich schiebe!«

Es war Elihu.

Schon packte der Harpunier Jacobs Beine und schob mit seinen Bärenkräften, bis der Deutsche durch das Loch rutschte.

Über sich sah er den Sternenhimmel. Ganz nah ertönte der Kampflärm.

Jacob rappelte sich auf. Er stand unter einem efeubekränzten Torbogen in einer schmalen Einfahrt zu Sun Chengs Grundstück.

Da erschien auch schon Elihu. Sein Haar- und Bartgestrüpp war mit Blättern übersät, als er aus dem Busch kroch.

Obwohl der Harpunier eine massigere Gestalt hatte als der Auswanderer, hatte Elihu nicht solche Schwierigkeiten gehabt, ins Freie zu gelangen. Jacobs Durchbruch hatte das Loch ausreichend vergrößert.

Zuletzt gelangte die Chinesin ins Freie. Kaum hatte sie den Durchgang verlassen, kam sie mit katzenhafter Gewandtheit auf die Füße und zeigte zu der nahen Straße.

»Wir müssen uns nach rechts halten, um zu Reverend Hume zu gelangen.«

»Wer ist dieser Reverend?« fragte Elihu.

»Er betreibt ein Waisenhaus an den Grenzen zu Chinatown«, erklärte Susu Wang. »Er hat meinen Landsleuten schon oft geholfen. Reverend Hume nimmt auch chinesische Kinder in seinem Haus auf. Das würde nicht jeder Weiße tun, der angeblich ein gutes Herz hat.«

»Was ist mit Sun Cheng und den anderen?« fragte Jacob und blickte zum Haus.

Ihm war unwohl bei dem Gedanken, daß sich der alte Chinese mit seinen Leuten in Lebensgefahr befand.

»Wir können ihm im Moment nicht helfen«, antwortete die Chinesin. »Er wird Hilfe von seinen Nachbarn erhalten. Das einzige, was wir jetzt für ihn tun können, ist zu verschwinden. Wenn die Männer des Hais uns nicht in seinem Haus entdecken, lassen sie Sun Cheng vielleicht in Ruhe.«

Jacob hoffte, daß Susu Wang recht behielt. Aber als er und Elihu ihr durch die Straßen von Chinatown folgten, tat er das mit einem unguten Gefühl im Magen. Er kam sich wie ein Verräter vor, daß er den alten Chinesen, der ihm und Elihu Unterkunft gewährt hatte, mit den Männern des Hais allein ließ.

*

Sun Cheng verspürte kaum Erleichterung, als das lakenbespannte Gestell den Geheimgang wieder verschloß. Zu groß war die Sorge um seine Leute und besonders um Fei-yen.

Als er sich umwandte und durch die Waschküche lief, sah er zwei seiner Arbeiter am Boden liegen, tot oder verwundet. Er kümmerte sich nicht weiter darum, konnte es nicht, weil er seine Enkelin suchte.

Sein Sohn, Fei-yens Vater, war auf den Goldfeldern gestorben. Ein Stollen war zusammengebrochen und hatte ihn unter sich begraben. Die Gerüchte, daß neidische Weiße den Zusammenbruch bewirkt haben sollten, ließen sich nie bestätigen. Fortan siechte Fei-yens Mutter in ihrem tiefen Kummer dahin. Sie arbeitete weiterhin in der Wäscherei ihres Schwiegervaters, aber ihr Interesse am Leben schwand mit jedem Tag. Dann schwand ihr Leben selbst. Auf dem Totenbett hatte Sun Cheng ihr versprochen, für Fei-yen wie ein zweiter Vater zu sorgen.

Er hatte die Waschküche fast durchquert, als dicht neben ihm an der Außenhülle eines großen Kupferkessels Funken entlangstieben. Dann erst hörte er die Detonation des Schusses, der für den Funkenregen verantwortlich war.

»Bleib stehen, Schlitzauge! Meine nächste Kugel trifft sonst deinen Rücken.«

Sun Cheng fror mitten in der Bewegung ein.

»So ist es brav«, lobte der Mann in seinem Rücken mit höhnischem Spott. »Und jetzt dreh dich um, aber hübsch langsam!«

Der Chinese gehorchte und sah sich zwei Männern gegenüber. Weiße, die ihre Waffen auf ihn richtete.

»Du bist doch Sun Cheng, der chinesische Oberaffe, dem dieser Laden gehört«, sagte der bullige Mann mit dem langläufigen Revolver - Al Winkler. »Ich kenne dich. Du warst schon mal im Golden Crown, um mit Henry Black die Verträge abzuschließen.«

»Ich bin Sun Cheng. Was wollen Sie von mir? Weshalb dringen Sie in mein Haus ein und schießen auf mich und meine Leute?«

»Wir suchen jemanden«, antwortete Winkler gelassen, als genüge dies als Rechtfertigung für das verbrecherische Tun. »Zwei Weiße und eine Chinesin, Susu Wang, der chinesische Engel. Du weißt nicht zufällig, wo sie sich aufhalten?«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Sun Cheng mit unbewegter Miene.

»Dreckiger gelbhäutiger Lügner!«

Der andere Mann, Charley Wagner, stieß diesen Fluch aus.

Gleichzeitig sprang er vor, hob den in beiden Händen gehaltenen Karabiner und ließ den Kolben schwer auf Sun Chengs linke Schulter krachen.

Beim Aufschlag gab es ein häßliches Geräusch - das Splittern von Knochen.

Der Chinese wurde durch die Wucht des Schlages von den Füßen gerissen und rutschte an dem kupfernen Waschkessel zu Boden. Nicht nur die Schulter stach und brannte, seine gesamte linke Seite schmerzte höllisch.

Wagner baute sich breitbeinig über ihm auf und richtete die Karabinermündung auf den Kopf des Chinesen. Die Augen in Wagners vollbärtigem Gesicht blickten mitleidlos.

»Deine letzte Chance, Chinamann. Sag uns die Wahrheit, oder ich jage dir eine Kugel in den Schädel! Wo hast du Susu Wang und die beiden Weißen versteckt, he?«

»Sie... sie sind nicht hier.«

»Jetzt reicht's!« schrie Wagner und krümmte den Zeigefinger um den Abzug.

»Halt!« fuhr eine scharfe Stimme dazwischen.

Louis Bremer betrat den Raum.

Ihm folgte eine ganze Anzahl Menschen. Bremers eigene Männer, bewaffnet. Und ihre Gefangenen, Sun Chengs Arbeiter.

Und das halbwüchsige Mädchen Fei-yen, Sun Chengs Enkelin!

Sie lebte, schien nicht einmal verletzt zu sein.

Die Erleichterung, die den alten Mann bei dieser Erkenntnis überfiel, währte nicht lange. Sofort machte er sich neue Sorgen, als Fei-yen auf ihn zustürzen wollte.

Er bohrte seinen Blick in den des Mädchens, und Fei-yen verstand. Ein chinesisches Mädchen war daran gewöhnt, den Blicken ihres Gebieters zu gehorchen. Seit dem Tod von Feiyens Eltern war Sun Cheng ihr Gebieter.

Fei-yen war immer ein folgsames Mädchen gewesen. Selbst jetzt, als sie sich um ihren Großvater ängstigte, gehorchte sie. Sie zwang sich, zwischen den anderen Gefangenen stehen zu bleiben, so sehr es sie auch drängte, sich um den am Boden liegenden Sun Cheng zu kümmern.

»Das ist doch der alte Sun Cheng, der Oberboß in diesem Laden«, stellte Bremer fest, der neben Wagner getreten war.

»Ja, das ist er.«

»Wir haben den chinesischen Engel und die beiden Kerle nicht finden können«, sagte der kleine Mann mit dem Rattengesicht. »Sun Cheng könnte uns erzählen, wo sie sich versteckt halten. Und da willst du ihn zur Hölle schicken, Charley?«

Der letzte Satz klang vorwurfsvoll.

»Der redet doch nicht«, verteidigte Wagner sich mit Blick auf den alten Chinesen unter ihm. »Er scheint sich lieber die Zunge abzubeißen, als uns etwas zu verraten.«

»Du hast ihn also schon gefragt, Charley?«

»Ja, Boß, zweimal schon.«

»Hast du ihn auch richtig gefragt?«

»Richtig?« Wagner legte fragend den Kopf schief, während er Bremer ansah. »Wie meinst du das, Boß?«

Bremer seufzte ergeben und erklärte: »Diese Schlitzaugen sind sehr feinfühlige Menschen, Charley. Denen darfst du nicht mit einer plumpen Frage kommen. Du mußt gefühlvoll an die Sache herangehen.«

»Gefühlvoll?« echote der Mann mit dem Karabiner verständnislos.

»Ja, sehr gefühlvoll.« Bremer zeigte auf eine große Wäschemangel, die in der Nähe stand. »Bringt Sun Cheng dorthin!«

Wagner schwenkte den Karabinerlauf in die von Bremer bezeichnete Richtung.

»Los, Schlitzauge, beweg dich. Mach schon!«

Sun Cheng wollte aufstehen. Aber als er dabei den linken Arm belastete, raubte ihm der neue Schmerzschub für Sekunden die Besinnung. Er hatte das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu stürzen. Als die Dunkelheit zurückwich, lag er wieder am Boden.