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»Dir werde ich Beine machen!« zischte Wagner mit verzerrtem Gesicht und stieß den Karabinerlauf hart zwischen Sun Chengs Rippen.

Der alte Mann stöhnte schmerzerfüllt auf.

Jetzt hielt es Fei-yen nicht mehr auf ihrem Platz. Ohne auf die bewaffneten Weißen und auf den beschwörenden Blick ihres Großvaters zu achten, eilte sie zu ihm und sagte: »Stütz dich auf mich, Sun Cheng. Ich helfe dir.«

Kluges Kind, dachte der alte Mann. Sie hat nicht verraten, daß ich ihr Großvater bin.

Mit ihrer Hilfe gelang es ihm aufzustehen. Er ging mit schleppenden Schritten zu der großen Mangel und stützte sich an ihrem gußeisernen-Gestell ab.

Wieder sah er Fei-yen an, und sie gehorchte. Unauffällig reihte sie sich wieder zwischen den anderen Gefangenen ein. Es waren außer ihr vier Personen, zwei Männer und zwei Frauen.

Mit Entsetzen fragte sich Sun Cheng, ob alle anderen, die für ihn gearbeitet hatten, tot waren.

Louis Bremer trat zu der Mangel und steckte seinen Pepperbox-Revolver in eine Tasche seiner abgetragenen Anzugjacke. Die Geste war eindeutig: Er war Herr der Lage und benötigte keine Waffe mehr.

Bremer blieb so dicht vor Sun Cheng stehen, daß der Chinese Bremers schlechten Atem riechen konnte.

Er schob die zu große Melone in den Nacken, musterte den alten Mann eingehend und meinte kopfschüttelnd: »Ihr Chinesen seid wirklich ein merkwürdiges Volk. Die Männer tragen bei euch längere Zöpfe als bei uns die Frauen. Seid wohl zu faul und zu geizig, um zum Barhier zu gehen, was?«

Während er sprach, nahm Bremer Suns langen grauen Zopf in die Hand und ließ ihn langsam durch seine Finger gleiten.

Die Bemerkung rief bei Bremers Männern Gelächter hervor.

»Hast recht, Louis«, kicherte Al Winkler. »Diese geizigen Schlitzaugen sparen jeden Cent, den sie verdienen, um so 'ne stinkige Wäscherei wie diese aufzumachen oder 'ne Opiumhöhle. Selbst beim Kartenspiel setzt so ein Gelber nie mehr als einen Vierteldollar, und auch dann nur, wenn er sicher ist zu gewinnen!«

Erneutes Gelächter war die Folge.

Charley Wagner brüllte: »Schneid ihm den Zopf doch einfach ab, Boß! Damit sich das Schlitzauge endlich mal wieder fühlen kann wie ein richtiger Mann.« »Abschneiden?« Versonnen betrachtete Bremer den Zopf und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Nein, dazu ist das schöne Haar viel zu schade. Man kann es besser verwenden!«

Sun Cheng hatte in seinem langen Leben schon vieles erlebt, Gutes und Böses. In der alten Heimat, auf dem Auswandererschiff und hier in der Neuen Welt. Er war der Meinung gewesen, daß nichts und niemand ihn mehr ängstigen könne.

Aber der kleine Mann mit dem Rattengesicht bewies ihm das Gegenteil.

Sun Cheng hatte Angst, große Angst.

Vor Louis Bremer.

Der Mann, der seinen Zopf in der Hand hielt, wirkte gefährlich.

Der Chinese wußte, daß der andere längst irgendeinen schlimmen Plan gefaßt hatte.

Aber Bremer spielte mit seinem Gefangenen, weil er es liebte, andere Menschen zu ängstigen.

So wie die Katze mit der in die Enge getriebenen Maus spielte, bevor ihre scharfen Krallen erbarmungslos zuschlugen.

Kaum hatte Sun Cheng diesen Gedanken gefaßt, da handelte Bremer auch schon.

Mit flinken Bewegungen steckte er das Ende des Zopfes zwischen die beiden schweren Holzrollen der Wäschemangel, legte eine Hand um den Griff des kupfernen Rades und ließ es eine halbe Drehung vollführen.

Die Holzrollen drehten sich und zogen das Zopfende zwischen sich.

Der plötzliche Schmerz an seiner Kopfhaut und die Kraft der beiden Holzwalzen zwangen Sun Cheng, sich zu bücken. In der grotesk verrenkten Haltung, die er jetzt einnahm, war er kleiner als Louis Bremer.

Das schien dem Anführer der weißen Männer zu gefallen. Das und die mit Angst gepaarte Hilflosigkeit des Chinesen. Die Augen in dem Rattengesicht strahlten einen eigentümlich zufriedenen Glanz aus.

Fei-yen stieß einen erschrockenen Ruf aus.

Die ältere Chinesin, die neben ihr stand, legte ihre Hände auf die Schultern des Mädchens.

Sie konnte Fei-yen dadurch nicht die Angst um ihren Großvater nehmen. Aber die Berührung der Frau wirkte zumindest ein wenig beruhigend und bewahrte Fei-yen vor einer Dummheit.

Die ältere Frau hatte, wie zuvor schon Sun Cheng, erkannt, daß die weißen Gangster die Verwandtschaft zwischen Sun Cheng und Fei-yen für ihre Zwecke ausnutzen könnten. Auf eine Weise, die für Großvater und Enkelin wenig angenehm sein würde.

Bremer beugte sein Gesicht vor, bis es dicht über dem des alten Chinesen schwebte.

»Was ist, Schlitzauge? Bist du jetzt bereit zu sprechen?«

Für Sekunden verdrängte Sun Cheng seine Angst. Ein anderer Gedanke schob sich in den Vordergrund.

Dieser häßliche kleine Mann, Louis Bremer, entsprach genau der Beschreibung, die einige Bewohner Chinatowns von dem Anführer der Männer gemacht hatten, die als Brandstifter verdächtigt wurden.

Es bestand kein Zweifel, daß das Feuer, das in der vergangenen Nacht fast einen ganzen Straßenzug am Rand von Chinatown vernichtet hatte, mit voller Absicht gelegt worden war. Die Reste von Petroleumfässern, die man am Brandherd entdeckt hatte, sprachen für sich.

Nicht nur Häuser waren vernichtet worden, auch Menschen. Fünf Chinesen verbrannten in den Flammen oder erstickten im Rauch.

Es wären weitaus mehr gewesen, hätte Wang Shu-hsien nicht von dem Plan des Hais erfahren und die Feuerwehren alarmiert. Mehrere Löschzüge waren schon unterwegs nach Chinatown, als das Feuer ausbrach. Sonst hätte der Wind, der vom Brandherd ins Chinesenviertel hineinblies, die todbringenden Flammen über den ganzen Bezirk verteilt.

Doch fünf tote Menschen waren fünf Tote zuviel! Der Brandstifter war zugleich ein fünffacher Mörder.

Mehrere Chinesen hatten einen mit Fässer beladenen Wagen nach Chinatown fahren sehen.

Petroleumfässer?

Einer der beiden Männer auf dem Bock sollte für einen Weißen sehr klein gewesen sein und das spitze Gesicht einer Ratte gehabt haben.

Louis Bremer?

Diese Gedanken beschäftigten Sun Cheng so sehr, daß er gar nicht mehr an Bremers Frage dachte.

Der kleine Mann brachte die Erinnerung auf für Sun Cheng schmerzhafte Weise zurück, indem er erneut an dem Kupferrad drehte.

Die Walzen zogen den Zopf weiter in sich hinein und zwangen den alten Chinesen, sich tiefer nach unten zu beugen.

»Kannst du in dieser Stellung besser sprechen, Schlitzauge?« grinste Bremer. »Vielleicht wird dein Kopf stärker durchblutet, und dir fällt endlich die richtige Antwort ein!«

Sun Cheng stöhnte vor Schmerz. Er hatte das Gefühl, seine Kopfhaut würde losgerissen werden.

Aber er biß die Zähne zusammen und schwieg.

*

Die drei Menschen nutzten bei ihrer Flucht durch das nächtliche Chinatown jede sich bietende Deckung und jeden Schatten aus.

Susu Wang führte die kleine Gruppe durch die kleineren Straßen und Gassen, die nicht so von Nachtschwärmen überlaufen waren wie die großen.

Das Chinesenviertel mit seinen vielfältigen Vergnügungsmöglichkeiten - Restaurants, Teestuben, Spelunken, Bordelle, Opiumhöhlen - war aber auch in diesen Gassen gut besucht.

Die Flüchtlinge konnten es nicht vermeiden, gesehen zu werden. Immer wieder fiel der matte Schein einer mit Samtpapier beschlagenen oder einer mit grellbemaltem Glas versehenen Lampe auf ihre Gesichter.

Viele der Menschen würden die Begegnung im Opiumrausch vergessen.

Für andere zählten nicht die Gesichter, sondern nur die potentielle Kundschaft.

So war es bei den Dirnen, deren weißgeschminkte Gesichter hinter kleinen vergitterten Verschlagen herausschauten und an die vorbeihastenden Männer teilweise obszöne Einladungen aussprachen.

Und auch bei den Anreißern, die vor den Vergnügungslokalen standen, und sich in überschwenglichen Anpreisungen ergingen. Dabei war ihre Sprache häufig ein seltsames Mischmasch aus schnell gesprochenem Chinesisch und breitgezogenem Amerikanisch. Aber immer waren ihre Wort laut.