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Seine gegen die Mißhandlung und die Schmerzen revoltierenden Sinne brachten ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und sich der verlockenden Ohnmacht ergeben, die ihn stark bedrängte. Wie erlösend mußte es sein, sich einfach zu Boden fallen zu lassen und nichts mehr zu spüren!

Nein, das durfte er nicht tun! Er sagte es sich immer wieder. Zwei Gründe sprachen dagegen.

Zum einen würden ihn die Männer des Hais nicht verschonen, nur weil er das Bewußtsein verlor. Wahrscheinlich würde schon der Sturz an sich seine Schmerzen verstärken, denn die dicken Holzwalzen der Wäschemangel würden seinen Zopf nicht preisgeben.

Zum anderen mußte er sich um Fei-yen kümmern, sie beschützen. Wenn er sich der erlösenden Ohnmacht hingab, wer stand dann für sie ein, wenn es zum Äußersten kam?

Natürlich betrog Sun Cheng sich mit diesem Gedanken selbst. Hilflos, wie er zur Zeit war, konnte er gar nichts für seine Enkelin tun.

Aber das Versprechen, das der alte Mann seiner Schwiegertochter auf dem Totenbett gegeben hatte, band ihn so stark, daß es jede Vernunft verdrängte.

Er wollte seinen Blick auf Fei-yen richten, damit ihr Anblick ihm Halt und Stärke gab.

Aber ganz gelang es ihm nicht. Immer wieder schüttelte das imaginäre Erdbeben die Gruppe der Gefangenen durch, und Fei-yens jugendlich glattes Gesicht verschwand aus seinem Blickfeld.

Ein anderes Gesicht schob sich dicht vor das des Chinesen und verdrängte alles andere.

Das Gesicht eines Weißen. Spitz und unansehnlich. Bedeckt von hellem Haar, das unter der viel zu großen Melone hervorragte.

Es strahlte ständige Bedrohung und Berechnung aus. Wie das häßliche Antlitz einer Ratte auf der Jagd nach Beute.

Wieder umhüllte Louis Bremers stinkender Atem den alten Chinesen. Doch diesmal merkte Sun Cheng es kaum. Sein Schmerz und seine Angst mehr um Fei-yen als um sich selbst ließen alles andere bedeutungslos erscheinen.

»Du strapazierst meine Geduld ganz schön, Schlitzauge«, sagte der Anführer der Weißen mit leiser Bedrohlichkeit. »Soll ich erst deinen ganzen Kopf durch die Mangel drehen, bevor du antwortest?«

»Das wird er dann wohl nicht mehr können, Boß!« gackerte Charley Wagner.

»Rede endlich!« explodierte Bremers Ungeduld in einem plötzlichen Schrei. »Wo sind Susu Wang, der Deutsche und der Seemann? Wo hast du sie versteckt, Alter?«

Der rattengesichtige Mann begleitete die Frage mit einem weiteren Drehen des Kupferrads. Mit ihm drehten sich die Walzen, zerrten an Sun Chengs langem Zopf und zogen den Kopf des Chinesen noch näher zu sich heran.

Sun Cheng focht einen doppelten Kampf aus.

Er kämpfte gegen die Ohnmacht an, die Erlösung vor dem Schmerz versprach.

Gleichzeitig kämpfte er gegen das Verlangen, dem Weißen alle Fragen zu beantworten, um endlich von dem wahnsinnigen Schmerz, den seine Kopfhaut ausstrahlte, erlöst zu werden.

Aber er durfte nicht reden!

Wenn er Bremer antwortete, brachte er Wang Shu-hsien in Gefahr, die Königin von Chinatown. Die Frau, auf deren schmalen Schultern die Hoffnung fast aller Chinesen in San Francisco ruhte. Die es gewagt hatte, den Kampf gegen den mächtigen, räuberischen, gefräßigen Hai von Frisco aufzunehmen.

Um dem Schmerz der Folter und der Verlockung des Verrats zu entgehen, träumte er sich in eine andere Welt. Diese Welt war längst Vergangenheit, aber gerade deshalb erschien sie ihm um so schöner.

Die Zeit machte alte Sorgen vergessen oder ließ sie zumindest lächerlich unbedeutend erscheinen. Aus diesem Grund erschienen den Menschen die Jahre ihrer Jugend so oft heiter und unbeschwert, wenn sie es auch gar nicht gewesen waren.

Gewiß, die Zeit seiner Jugend war auch die Zeit gewesen, als China von Aufständen gegen die Mandschudynastie heimgesucht wurde. Steigende Abgaben und die unnachgiebige Härte der Obrigkeit veranlaßten immer mehr Männer, sich die von den Mandschuherrschern verordneten Zöpfe abzuschneiden und gegen den Kaiser zu rebellieren.

Sun Cheng hatte sich nicht daran beteiligt. Das Glück der gerade gefundenen Liebe glich dem jungen Reisbauern die immer widriger werdenden Lebensumstände mehr als aus. Und nicht viele Chinesen konnten von sich sagen, daß die geheiratete Frau von ihnen geliebt wurde und ihre Liebe auch erwiderte. Ehen waren Geschäfte, die normalerweise abgeschlossen wurden, ohne die Frau auch nur zu fragen.

Bei Sun Cheng und seiner Frau war das anders gewesen. Sie hatten sich verliebt und ihre Ehe gegen alle Widerstände durchgesetzt. Es waren bescheidene, aber glückliche Jahre, in denen Sun Chengs Sohn geboren wurde. Erst danach wurden die Lebensumstände so schlecht, daß Sun Cheng mit seiner Familie nach Amerika auswanderte. Sun Chengs Frau erreichte die Neue Welt nicht. Eine Epidemie auf dem überfüllten Schiff raffte sie dahin.

Aber daran dachte Sun Cheng jetzt nicht. Er schwelgte in den schönen Zeiten, als die Abende nach getaner Feldarbeit Stunden der Zweisamkeit und des scheinbar vollkommenen Glücks bedeutet hatten. Das Gesicht seiner Frau stand vor seinem geistigen Auge, fast so jung und glatt wie das Antlitz Fei-yens.

Dann verlor der alte Mann den Boden unter den Füßen. Das glückliche Gesicht seiner Frau verblaßte. Der unerwartete Sturz riß ihn brutal in die Wirklichkeit zurück.

Diesmal war es kein eingebildetes Erdbeben, das seinen überreizten Nerven und Sinnen entsprang. Louis Bremer hatte, als Sun Cheng wieder nicht antwortete, dem Chinesen durch einen harten Tritt die Beine weggeschlagen. Aufgrund seiner unnatürlichen Körperhaltung verlor der alte Mann augenblicklich das Gleichgewicht und fiel hin.

Stärker als der Schmerz des Aufpralls in seiner schon lädierten Schulter war der Schmerz seiner Kopfhaut. Durch den Sturz wurde die Spannung zwischen Kopf und Wäschemangel noch erhört.

Sun Cheng schrie laut auf.

Wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsring griff er nach dem gußeisernen Gestell der Wäschemangel und zog sich ein Stück hoch, um den Schmerz zu lindern.

Aber sofort drehte Louis Bremer an dem Kupferrad und stellte die Spannung wieder her.

Sun Chengs Zopf befand sich jetzt fast gänzlich zwischen den schweren Walzen.

»Muß ich dir erst die Kopfhaut abreißen, bevor du antwortest, Schlitzauge?« schrie Bremer und versetzte dem alten Mann eine schallende Ohrfeige. »Es ist weder ein angenehmes Gefühl noch ein schöner Anblick. Frag meinen Freund Charley. Er hat schon mal einen gesehen, den die Rothäute skalpiert haben.«

»Ja, der Mann sah ziemlich übel aus«, grinste Charley Wagner. »Sein Kopf war roter als die Haut von so 'nem verfluchten Indianer.«

»Da hörst du es«, wandte sich Bremer wieder an Sun Cheng. »Also, spuck's schon aus! Wo stecken Susu Wang und die beiden Weißen?«

Sun Cheng preßte die Lippen aufeinander. Tränen standen in seinen Augen.

Er schwieg weiter.

»Na schön«, seufzte Bremer in gespielter Gleichgültigkeit. »Du hast es nicht anders gewollt!«

Ein neues Drehen an dem Kupferrad.

Die Walzen zogen Sun Chengs Haar zwischen sich hindurch, wie sie es sonst mit nassen Wäschestücken taten. Für sie machte es keinen Unterschied. Bis es nicht mehr weiterging und der Kopf des alten Mannes gegen ihr Holz stieß.

Sun Cheng aber merkte es kaum. Der Schmerz überlagerte alles andere. Erst nach einer ganzen Weile merkte er, daß er eine lange Kette lauter Schreie ausstieß.

Fei-yen hielt es nicht mehr auf ihrem Platz.

»Großvater, nein!« schrie sie auf chinesisch, lief zu ihm, schlang schützend ihre Arme um ihn und blickte dann Bremer aus tränenerfüllten Augen an. »Bitte, lassen Sie meinen Großvater in Frieden!«

Er verstand das Mädchen nicht. In seiner Angst hatte es. Chinesisch gesprochen.

»Was willst du, Göre?« herrschte er Fei-yen an.