Als Sun Cheng erkannte, was die Männer des Hais vorhatten, flehte er sie noch einmal an, sein unschuldiges Enkelkind zu verschonen.
»Das tun wir gern«, sagte Bremer mit seinem falschen, kalten Lächeln. »Du mußt uns nur sagen, was wir wissen wollen, Sun Cheng!«
Die Gedanken in Sun Chengs Kopf wirbelten durcheinander.
Wie konnte er Wang Shu-hsien verraten, um Fei-yen zu retten?
War nicht auch die Königin von Chinatown, ähnlich wie Feiyen, für ihn eine Art Tochter?
Und hing von Shu-hsiens Schicksal nicht das Schicksal aller Chinesen in San Francisco ab?
»Ich. weiß nichts!« erwiderte der alte Chinese schweren Herzens.
»Das werden wir ja sehen«, meinte Bremer kühl und blickte dann den vollbärtigen Mann an, der das nackte Chinesenmädchen im festen Griff hielt. »Fang an, Charley!«
»Mit Vergnügen, Louis.«
Wagner preßte das Mädchen mit dem Rücken gegen den glühend heißen Kupferkessel, der auf einer steinummauerten Feuerstelle stand.
Es gab ein zischendes Geräusch. Augenblicklich roch es stark nach verbranntem Fleisch.
Fei-yen schrie gequält auf.
Sie schrie noch immer, als Wagner sie auf Bremers Wink hin längst wieder vom Kessel genommen hatte. Ihr ganzer Rücken war eine häßliche Brandwunde.
»Das mindert die Heiratsaussichten deiner Enkelin erheblich, Sun Cheng«, sagte Bremer zu dem alten Chinesen. »Wenn wir den Rest ihres Körper auf dieselbe Art behandelt haben, wird kein Mann sie mehr ansehen mögen. Nur du kannst es verhindern!«
Sun Cheng überlegte so angestrengt, daß die Adern auf seiner schweißglänzenden Stirn hervortraten.
Die Verantwortung gegenüber den vielen Chinesen, die vom Hai bedroht wurden, lag im Widerstreit mit der persönlichen Verantwortung, die er für Fei-yens Wohl und Wehe übernommen hatte. Wenn er sich nicht schützend vor seine Enkelin stellte, konnte und würde es niemand tun.
Er starrte in die Gesichter der vier anderen Gefangenen. Er las dort Wut, Abscheu und Angst, aber nicht die Bereitschaft zum Einschreiten. Zu groß war die Angst, selbst das Opfer der brutalen Gangster zu werden.
»Ich glaube, er ist noch nicht bereit zum Reden, Boß«, hörte Sun Cheng die Stimme des Mannes, der seine Enkelin festhielt.
In der Stimme schwang die sadistische Vorfreude auf eine Fortsetzung der Folter mit. War Charley Wagner erst über die Anordnung seines Anführers enttäuscht gewesen, jetzt war er auf den perversen Geschmack gekommen.
Fei-yens Schreien war in ein leises, stetiges Wimmern übergegangen.
Sun Cheng blickte mit Abscheu und Zorn auf den entstellten Rücken seiner Enkelin und stellte sich vor, wie es aussah, wenn der ganze Körper von solchen Brandwunden bedeckt war. Er stellte sich Fei-yens Schmerzen vor.
Unerträgliche Schmerzen!
Das gab den Ausschlag für seine Entscheidung.
Das und die Überlegung, daß Wang Shu-hsien sich selbst helfen konnte, Fei-yen aber nicht. Schließlich hatte niemand Shu-hsien gezwungen, sich in die Höhle des Löwen - vielmehr des Hais - zu begeben. Sie hatte es freiwillig getan, in voller Kenntnis ihres eigenen Risikos.
Sun Cheng hatte sie nach besten Kräften unterstützt. Ihr Vater und Fei-yens Vater - Sun Chengs Sohn - waren gute Freunde gewesen. So gute Freunde, daß sie zusammen gestorben waren, als der Minenschacht einstürzte. Deshalb hatte sich Sun Chengs immer mehr für Shu-hsien verantwortlich gefühlt, als er es gegenüber einer Frau, mit der er nicht verwandt war, hätte tun müssen.
Aber seine Verantwortung gegenüber Fei-yen war größer!
Er hatte den beiden Weißen, die Shu-hsien aus der Gewalt des Hais befreit hatte, Unterschlupf gewährt. Damit hatte er sich selbst und Fei-yen in Gefahr gebracht. Jetzt mußte er an seine Enkelin denken.
»Der Alte ist verstockter als ein Stockfisch«, meinte Louis Bremer. »Also los, Charley. Dreh die Kleine um und dann wieder an den Kessel!«
»Nein!« schrie Sun Cheng. »Tut es nicht! Ich werde alles sagen, was ihr wissen wollt.«
»Wirklich?« fragte Bremer ein wenig ungläubig.
»Ja!«
Der Wäschereibesitzer wollte bekräftigend nicken. Aber der Schmerz an seinem Hinterkopf erinnerte ihn daran, daß aufgrund des eingeklemmten Zopfes jede größere Kopfbewegung unmöglich war.
»Das ist schön«, meinte Bremer und brachte sein Gesicht so dicht vor das des Chinesen, daß sich ihre Nasen fast berührten. »Aber laß dich nicht dazu verleiten, mir ein chinesisches Märchen zu erzählen! Ich merke es, wenn ein Mensch lügt. Selbst, wenn es ein verstockter Chinese ist. Und wenn du lügst, mußt nicht du dafür büßen, sondern deine Enkelin!«
»Ich werde die Wahrheit sagen«, widersprach der hilflose Chinese.
»Ich höre.«
»Wang Shu-hsien und die beiden weißen Männer.«
»Ja?« fragte Bremer, als Sun Cheng stockte.
»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen zu Reverend Hume gehen.«
Sun Cheng fühlte sich erleichtert, als er es endlich ausgesprochen hatte.
»Reverend Hume?« wiederholte Bremer. »Wer ist das?«
»Er führt das Waisenhaus in der Bolding Street.«
»Was hat er mit euch Schlitzaugen zu tun?«
»Der Reverend kümmert sich auch um chinesische Kinder. Wang Shu-hsien hat ein paar Jahre dort gelebt, nachdem ihr Vater gestorben war.«
»Wang Shu-hsien«, sagte der Mann mit dem Rattengesicht leise und brach sich dabei fast die Zunge. »Ist das Susu Wang?«
»Ja«, antwortete der alte Chinese. »Das ist Susu Wangs richtiger Name.«
»Und Susu Wang ist die sogenannte Königin von Chinatown?«
Als Sun Cheng mit der Antwort zögerte, sagte Bremer: »Damit verrätst du uns kein großes Geheimnis, Mann. Der Hai vermutet es eh schon.«
»Ja, sie ist es«, sagte Sun Cheng.
Bremer betrachtete ihn nachdenklich und sagte schließlich: »Du hast Glück, Schlitzauge, ich glaube dir.«
Der kleine Mann zog sein Krummmesser, die Erinnerung an seine Zeit als Schustergeselle in Deutschland.
»Was haben Sie vor?« fragte Sun Cheng mit brüchiger Stimme.
»Ich will dich von deinen Qualen erlösen, Alter«, grinste Bremer und führte das Schusterwerkzeug mit der nach unten gekrümmten Klingenspitze zum Kopf des Chinesen.
*
Der dampfend heiße Kaffee, den Jacob Adler und Elihu Brown aus großen Keramiktassen tranken, tat gut. Er wärmte und weckte die Lebensgeister.
In Reverend Humes Studierzimmer herrschte eine behagliche Atmosphäre. Das Feuer im Kamin prasselte heiter und warf einen warmen Schein auf die mit Bücherschränken vollgestellten Wände. Auf dem großen Tisch lagen eine aufgeschlagene Heilige Schrift und mehrere andere Bücher, darunter eine Konkordanz zum Buch der Bücher.
Angesichts der Wärme und Entspanntheit, die den großen Raum erfüllten, erschienen Jacob die aufregenden Ereignisse des vergangenen Tages und dieser Nacht unwirklich wie ein Spuk. Als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.
Aber die Tatsache, daß er, Elihu, der Reverend und die geheimnisvolle Susu Wang hier zusammensaßen und über eben diese Ereignisse sprachen, belegte das Gegenteil.
Die scheinbare Geborgenheit dieses Zimmers und des ganzen Waisenhauses, das Auster Hume führte, entpuppte sich als schöner Schein.
Draußen, jenseits der schützenden Wände, hatte ein blutiger Kampf getobt.
Und vielleicht durchstreiften jetzt gerade bewaffnete und zu jeder Schandtat bereite Männer des Hais die Straßen von San Francisco, um Jacob, Elihu und die junge Chinesin aufzuspüren.
Als Jacob daran und an den Hai dachte, beherrschten schlagartig wieder Irene und Jamie seine Gedanken. Bislang hatte es den Anschein gehabt, als wären die beiden Verschleppten so schwer aufzutreiben wie ein Südstaatler, der Abraham Lincoln mochte. Aber Susu Wangs Bemerkung, das Golden Crown sei das Hauptquartier des Hais, schürte in Jacob die Hoffnung, Mutter und Kind endlich wiederzufinden.