Canisades konnte besser mit den Einheimischen. Er stammte aus einer kleinen Stadt im Norden des Landes, seine nach den Unabhängigkeitskriegen zu Verwaltungsbeamten heruntergekommenen Vorfahren gehörten ehemals der Oberschicht an. Wie Polidorio hatte er in Frankreich studiert. Auf dem Pariser Nobelinternat, das er zwei Jahre lang besuchte, gab er an, eine jüdische Mutter zu haben, was nicht stimmte. In Targat behauptete er, Spross einer französischen Industriellenfamilie zu sein, was auch nicht stimmte. Ansonsten war Canisades kein schlechter Mensch. Sein leichter, erfindungsreicher Umgang mit der eigenen Biographie schien ihm ebenso angeboren wie die eleganten Umgangsformen und ein Charme, der in Mitteleuropa schmierig genannt worden wäre und hier die Herzen aufschloss. Er hatte kurz vor Polidorio seinen Dienst in Targat angetreten, aber im Gegensatz zu diesem keine Schwierigkeiten, sich zu akklimatisieren. Nach zwei Wochen kannte ihn die halbe Stadt. In den Kifferspelunken an der Corniche ging er ebenso ein und aus wie in den Villen der amerikanischen Intellektuellen, und er versah seinen Dienst im Übrigen durchaus zufriedenstellend.
Wenig von Erfolg gekrönt waren allein seine Versuche, auch den neuen Kollegen in das Gesellschaftsleben der Stadt einzuführen. Polidorio ließ sich zwar gern zu allerhand überreden, konnte aber mit den Gruppen, zu denen Canisades so eifrig wie unterschiedslos Kontakt aufnahm, nur wenig anfangen. Die Idee, eine Party der High Society einem Abend unter Freunden vorzuziehen, wäre ihm nie gekommen, und wie alle, denen gesellschaftliche Eitelkeit unbekannt ist, hatte Polidorio Mühe, sie sich als Triebfeder in anderen vorzustellen.
Was ihm noch am ehesten zusagte, waren die spätnächtlichen Bordellbesuche. Seitdem Canisades ihm in der langen Nacht der Akten einmal gezeigt hatte, wie die Sache funktionierte, war der Gang ins Hafenviertel für ihn zur lieben Gewohnheit geworden. Wobei schwer zu sagen war, was ihn daran reizte. Die geschlechtliche Befriedigung sicher nicht, dafür fand sie zu selten statt.
Die Frauen, die dort arbeiteten, stammten aus entsetzlichen Verhältnissen, keine von ihnen hatte je eine Schule besucht, und wer annahm, dass sie ihre intellektuellen Defizite durch Einfühlungsvermögen oder körperliches Geschick wettzumachen verstanden, täuschte sich.
Polidorio verachtete sie für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte. Es war eher die Atmosphäre, die ihn anzog, die unmerkliche Verschiebung des Alltags, der Verstoß gegen die Ordnung der Dinge, dem er sich von Berufs wegen eigentlich entgegenstemmen musste, und vor allem diese unerklärliche Aufregung. Er unterhielt sich gern mit den Damen, und es beförderte ihn in einen sonderbaren Zustand, zu wissen, dass er etwas mit ihnen tun konnte, wenn er denn wollte. Unter dieser Aufregung, die sich schon beim Gang ins Hafenviertel zuverlässig einstellte, vermutete Polidorio beständig eine Art Abgrund. Etwas tief Beunruhigendes, ja Dämonisches, das ihm, wie vielen schlichten Gemütern, an sich selbst gut gefieclass="underline" Hat meine Persönlichkeit vielleicht noch verborgene Schichten? Untiefen, die mich zu verschlingen drohen? Wobei er mit seiner Idee des Dämonischen nicht weit über das hinauskam, was Frauenzeitschriften von der Psychoanalyse wussten.
Im Gegenzug und auch, um sein Gewissen zu erleichtern, versorgte er seine Favoritinnen mit chemischen Schätzen aus der Asservatenkammer, behördlichen Dokumenten und Razzia-Durchsagen, und obgleich er darin nicht anders verfuhr als jeder andere Polizist, der ins Bordell ging, empfand er auch dies als ein wenig unheimlich, abgründig und verrucht. Indes war das Unheimlichste vielleicht, dass in diesem Abgrund zwei Drittel seines Nettolohns verschwanden. Überflüssig zu erwähnen, dass Polidorios Ehefrau bescheiden lebte und von alledem nichts wusste.
Doch am Abend des Tages, als die beiden Kommissare gemeinsam Amadou verhört hatten, gingen sie nicht ins Hafenviertel. Canisades hatte Polidorio gebeten, sich diesen Termin freizuhalten, aber nicht verraten, wohin er wollte, und Polidorio hatte das mit verhaltener Begeisterung aufgenommen.
«Nicht zu den Scheißamis», sagte er, als er Canisades in seinem besten Anzug sah, «bitte nicht zu den Scheißamis», und Canisades sagte: «Stell dich nicht so an.»
Im ersten Gang kroch der Polizeiwagen die Serpentinenstraße am Küstengebirge hinauf und hielt gegenüber einer prächtigen Villa aus den vierziger Jahren, zwischen schwarzen Limousinen und Cabrios mit weißen Reifen. Die Villa gehörte einem der beiden amerikanischen Schriftsteller, die in der Stadt lebten. Sie war von einer hohen, weißen Mauer mit überdimensioniertem Art-déco-Portal umgeben, vor dem sich tagsüber gerne Touristen fotografieren ließen. Das Portal bestand aus zwei stilisierten Papyrusbündelsäulen, davor androgyne Jünglinge mit schlanken Marmorkörpern, deren Füße in klaffender Schrittstellung in der Luft schwebten, als liefen sie aufeinander zu. Der linke Läufer trug einen Hammer und ein Dreieckslineal in der Armbeuge, er lächelte. Der rechte hatte eine Peitsche und ein Gitter in der Hand, und eine tiefe, gesäßartige Einkerbung auf seiner Stirn drückte bildhauerisch zweifelhaften Zorn aus. Schon dreißig Jahre nach Errichtung der Villa wusste kein Mensch mehr das symbolische Programm zu deuten.
Klirren und Gelächter einer Party drangen über die Mauern, und Polidorio fragte seufzend, welcher der beiden Schriftsteller hier wohne.
«Kneif einfach die Fuge zusammen.» Canisades zog am Klingelband.
«Es interessiert mich wirklich.»
«Dann lies mal eins von ihren Büchern.»
«Hab ich versucht. Also, wer wohnt hier?»
«Es gibt eine Eselsbrücke», sagte Canisades. «Die Dinger da sehen aus wie Schachfiguren.»
Es gab, soweit Polidorio das beurteilen konnte, eine Menge Amerikaner in Canisades’ Bekanntenkreis, die drei Gemeinsamkeiten hatten: Sie machten irgendwas mit Kunst, irgendwas mit Drogen und dann noch irgendwas Krankes mit Sexualität. Die beiden auffälligsten waren die Schriftsteller, die Canisades um der leichteren Unterscheidung willen Spasski und Moleskine getauft hatte. Beide galten als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, Spasski schon länger, Moleskine erst seit kurzem und eher als Geheimfavorit.
Spasski kam aus Vermont und sah sich selbst nicht so sehr als Amerikaner. Seiner Ansicht nach entsprach er eher dem distinguiert-europäischen Typus. Er trug Anzüge aus Paris, begeisterte sich für den technischen Fortschritt und verachtete seinen Kollegen für dessen rückständiges Notizbuch. Er hämmerte mit großer Disziplin jeden Tag genau vier Seiten in eine schwarze Reiseschreibmaschine und versuchte abends auf der Corniche, die Sizilianische Verteidigung einheimischer Stricher aufzubrechen.
Warum er sich dem Schachspiel mit aller Macht und Leidenschaft ergeben hatte, war nicht ganz klar. Er beherrschte es allenfalls amateurhaft und machte keine Fortschritte. In seinem letzten Buch gab es eine Szene, in der der geheimnisvolle Held, aus dunkler Unterschicht emporgetaucht, seinen messerscharfen Intellekt demonstrierte, indem er einen serbischen Großmeister en passant mit der Eröffnung b2-b4 vom Brett fegte, plus Damenopfer im Mittelspiel. Ein Kritiker der New York Times merkte dazu an, er habe diese Szene so oder so ähnlich bereits in zwei anderen Büchern desselben Autors gelesen; vierzehn Tage später erhielt die Redaktion ein schmales Luftpostpaket aus Afrika, das nichts weiter enthielt als eine verwesende Ratte.
Moleskine dagegen bevorzugte männlichere Themen. Er war vom schlanken, asthenischen Typus, litt an den Spätfolgen einer nicht ausgeheilten Tbc und hatte einen Doktor der Philosophie, was er in Gesellschaft gern verschwieg. Das bekannteste Foto zeigte ihn in Boxhandschuhen. Das zweitbekannteste zeigte, wie er am Strand von Targat stehend mit heruntergelassenen Hosen auf Das Damengambit des Kollegen Spasski urinierte.
Er sammelte historische Waffen und hatte kurz nach seiner Ankunft in Targat eine Art homosexueller Wehrsportverbindung gegründet. Für eine Reihe zwölfjähriger Knaben ließ er in Marseille weiße Hosen und prächtige blaue Uniformröcke schneidern, stattete sie mit realistisch aussehenden Spielzeuggewehren aus und veranstaltete in der nahe gelegenen Wüste als Oberbefehlshaber der kleinen Truppe paramilitärische Manöver, bei denen vor allem der Ausdauerlauf, das Ertragen körperlicher und seelischer Schmerzen, das Exerzieren in glühender Sonne und das rasche Fortwerfen der kleinen Röcke geübt wurde. Die beiden Schriftsteller waren abwechselnd gut befreundet und vollkommen zerstritten und machten sich in jeder der beiden Phasen gegenseitig ihre Haushaltshilfen in Form zartgliedriger, braungebrannter Knaben abspenstig.