Lundgren hatte schon viel Elend gesehen in dieser Welt, und er hatte irgendwann herausgefunden, was das Problem des Trikonts und seiner Bewohner war. Neben vielem anderen fanden sie Gehirntätigkeit unmännlich. Das sagte natürlich so keiner. Aber Wissenschaft stand in unscharfer Opposition zu den großen Idealen von Stolz, Ehre und Ramtamtamtam. Wissenschaft war für Weiber. Konntest du einer Frau hundert Dollar geben, und sie stampfte eine Näherei mit acht Angestellten aus dem Boden. Konntest du einem Mann hundert Dollar geben: Bürgerkrieg. Und am schlimmsten die Araber. Was ihnen im Blut lag, waren Nichtstun, Intrige und Fanatismus. Aber Nachdenken war für Frauen, und Frauen, das war auch klar, waren für Nachdenken bekanntlich zu dumm. Ein Teufelskreis. Lundgren dachte darüber nach, und je länger er darüber nachdachte, über das, was er bei sich den Teufelskreis des arabischen Nationalcharakters nannte, desto weniger fremd erschien es ihm. Denn letztlich ging es ihm genauso.
Was war die Wissenschaft? Ein hühnerbrüstiges Gebastel. Betrieben von Wichtigtuern in von Mutti rausgelegten Hemden, kleinen Männchen mit Brillen wie Glasbausteinen, die kaum bis zur Labortür gucken konnten und einem mit herablassender Fistelstimme Aufträge erteilten: Geh du in die Welt und mach den Dreck weg, die Hauptsache haben wir längst durchgerechnet und erledigt. Physik war, philosophisch betrachtet, ein Modell zur Beschreibung der Realität. Aber es war ein falsches Modell. Physik war unterkomplex, denn sie blendete das Wichtigste aus, den Menschen und seine Schwachheit. Das hatten die Kameltreiber immerhin begriffen: Auch der größte Nobelpreisträger vermochte der einfachsten Gewaltanwendung nicht standzuhalten. Die Wissenschaft hatte keinen Bezug zur Wirklichkeit, zur wirklichen Wirklichkeit, da fehlte die Rückkopplung. Spionage hatte diese Rückkopplung. Spionage war komplex, ein fast künstlerischer Vorgang, und wie jede Kunst war sie Täuschung und Illusion. Eine Kunst und ein Sport und im Gegensatz zur Wissenschaft dem Leben so ähnlich, dem herrlichen, dem großen, dem auslöschbaren, fragilen Gesamtkunstwerk des kleinen Menschenlebens, und das Einzige, was einen wahnsinnig machen konnte, war, dass der Kontaktmann nicht erschien. Wahrscheinlich hockte er irgendwo auf seinem Hof, penetrierte seinen Lieblingshammel und hatte darüber die Isotopentrennung längst vergessen.
Dass der Kontaktmann nicht erschien … und die Sonne. Schon am Abend des ersten Tages hatte Lundgren sich einen lächerlichen Strohhut gekauft. Der schützte ihn kaum vor den Strahlen, die acht Minuten zuvor die Sonne als Abfallprodukt einer Kernfusion ausgesandt hatte, damit sie unerbittlich genau auf Lundgrens Stirn prallten. Aber ins Innere des Cafés wagte er sich nicht zu setzen. Überblick behalten, Sicherheit. Grundregel. Die elektromagnetische Strahlung brannte durch den Strohhut, er schaute auf die grüne Fahne, er schaute auf das grüne Haus, und plötzlich war das Wort weg.
Ein taubes Gefühl blieb wie Watte auf seiner Zunge zurück. Das Wort war weg. Es war, als würde er sich nicht an seinen eigenen Namen erinnern. Er erinnerte sich nicht an den Namen vom Dings. Das Dings, das sich drehte. Weswegen er hier war. Klar, Zentrifuge, zentrifugal. Das kam gleich neben Zentaur, Zentrum, Zentralgestirn. Die Zentrifuge, sicher. Und davor? Es wurde immer schlimmer. Vorhin hatte er schon Münztee gedacht. Mademoiselle, ein Münztee. Und Hammelkinder. Aber warum war er jetzt eigentlich hier? Wegen der … Extremzentrifuge? Der extrem schnellen Schnellzentrifuge? Nach ausgiebigem Schläfenmassieren kam Lundgren noch auf Quasi. Die Quasizentrifuge. Das war nicht das richtige Wort. Oder? War das das richtige Wort? Und wenn das nicht das richtige Wort war, wie sollte das noch enden? Guten Tag, mein Name ist quasi Lundgren. Ich bringe hier die Dings. Ja, danke schön, keine Ursache. Es wurde wirklich immer dümmer. Es war die Sonne, die Scheißsonne. Der Scheißtee. Und die Scheißzentrifuge.
Zwei Zigaretten und eine halbe Tasse Tee später zitterte Lundgren wie Erbsenlaub. Als ein Mann, der gewohnt war, allen Seiten mit Misstrauen zu begegnen, besonders der eigenen, hatte ihn von Beginn an der Verdacht geplagt, als Köder ausgesandt worden zu sein. Wie ein Lehrling, der nach Siemens-Lufthaken oder dem verlängerten Augenmaß geschickt wird, und hinterher lachen sie ihn aus. Die Hühnerbrüstigen. Zeigen mit dem Finger auf ihn, schauen durch ihre Glasbausteine und werfen mit Tafelkreide. Nur dass sie hier nicht mit Tafelkreide werfen würden, sondern schlimmer. Lieblingsfach Foltern.
Es war nicht ungefährlich gewesen (und auch nicht einfach), unbemerkt einen Blick auf die Pläne zu werfen. Er hatte dazu an eins von diesen Leuchtgeräten gelangen müssen. Der Text war verschlüsselt, oder jedenfalls auf Arabisch, was aufs Gleiche hinauslief, aber er hatte auch Konstruktionszeichnungen enthalten. Und obgleich Lundgren nichts davon verstand, hatten die Gebilde in seinen Augen doch einen ausreichend zylinderförmigen und geheimen Eindruck gemacht. Über Hunderte Seiten. Da ging es eindeutig nicht nur um Zentrifugen. Das hatte ihn beruhigt. Das war kein Siemens-Lufthaken. Für einen Lufthaken war das Ding zu groß. Er war in ordentlicher Mission unterwegs. So leicht machte man ihm nichts vor.
Und doch wurde ihm mulmig. Es war nicht die Sorte Auftrag, bei der ein Scheitern hinnehmbar war. Er saß im Niemandsland, in der Wüste, und ihm gegenüber auf der anderen Straßenseite im Schatten seit zwei Tagen ein zahnloser Araber, der ihn anstarrte. Ununterbrochen. Ab und zu kippte der Alte nach vorn, um in irgendeine Richtung zu beten. Danach starrte er wieder ihn an.
«Der sitzt da immer, der hat sie nicht alle», informierte ihn die zwölfjährige Serviererin, aber der konnte man auch nicht trauen. Immer, wenn er sich umdrehte, warf sie ihm feurige Blicke zu. Ein Biest! So war das in diesen Breiten. Dumm wie Binsenstroh. Aber gut aussehen, das konnten sie. Wie die Tiere. Quasi Nationalcharakter. Diese goldene Haut! Diese schwarz-schwarzen Augen! Das lag ihnen im Blut. Wem konnte man noch trauen? Das war das Aufregende an dem Beruf, man konnte niemandem trauen. Der Mensch war eine Maske, die Welt nur Fassade und hinter allem ein Gedanke und ein Geheimnis. Und hinter jedem Geheimnis noch ein Geheimnis, wie der Schatten eines Schattens.
Lundgren lächelte versonnen in sich hinein. Und dann plötzlich, am Nachmittag des zweiten Tages: die Katastrophe. Von irgendwoher hatte der zahnlose Alte auf einmal ein kleines, elektronisches Gerät. Er suchte es in der Hand zu verbergen, aber Lundgren sah es aus den Augenwinkeln. Ein winziges Blinken in der Sonne. Der Araber bewegte das schwarze Kästchen auf sein Ohr zu, im selben Moment kam ein Jeep die Straße hinuntergefahren — und das war das Signal. Lundgren sprang auf. Er rannte ins Café, flüchtete auf die Toilette. Hielt sich am Waschbeckenrand fest und überredete sein Spiegelbild zur Besonnenheit. Dann Stimmen. Dann Schritte: Lundgren hechtete durch das Fenster. 42 Grad im Schatten. Er nahm eine Mauer im Sprung (110 Meter Hürden in 14,9 Sekunden, schwedischer Landesrekord der Junioren), bog zwischen aufgeschreckten Hühnern zweimal links ab und erreichte fliegend die Hauptstraße, an der das Café lag. Betastete die in der Achselhöhle verborgene Waffe. Legte den Sicherungshebel um. Dachte an seine Frau und spähte um die Ecke.
Durch sonnenflirrende Luft sah er das kleine Café, sah seinen Notizblock, seinen Sonnenhut und seinen Malztee allein auf dem Tischchen vor der Veranda. Davor ein leerer Stuhl. Lundgrenförmige Luft hatte seinen Platz eingenommen. Auf der anderen Straßenseite vor dem grünen Haus unbeweglich der Araber, an seinem Ohr ein Transistorradio. Musik, leiernder Gesang. Der Jeep war vorübergefahren. Alles an Lundgren flatterte. Die zwölfjährige Schönheitskönigin winkte ihm freundlich-erstaunt. Lundgren trottete zurück an sein Tischchen wie ein schwitzender Käse. Sie lächelte. Er sah sie nicht an. Sie drückte ihre unterentwickelten Brüste nach vorn. Er blockte. Erst Auftrag durchführen, dann Mädchen flachlegen. Alte Regel.