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3. KAFFEE UND MIGRÄNE

Ein Verrückter natürlich, so einer, der die Hosen voll hat und lauter erlesene Gefühle in sich spürt, der ist immer fein raus.

Joseph Conrad

«Und interessiert mich das? Das kannst du irgendwem erzählen, deinen Briketts kannst du das erzählen, aber nicht mir.» Polidorio hatte sich Kaffee eingeschenkt und rührte ihn mit dem Kugelschreiber um. Die blauen Fensterläden waren geschlossen bis auf einen schmalen Spalt weißer Mittagshitze. «Und du kannst hier auch nicht einfach reinkommen und irgendwen anschleppen. Hollerith-Maschinen! Du weißt nicht mal, was das ist. Und das interessiert mich nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist: Wo ist das passiert? Das ist in Tindirma passiert. Wer ist da zuständig? Also. Pack das da ein und verschwinde. Nein, rede nicht. Hör auf rumzureden. Seit einer Stunde redest du. Hör mir zu.»

Aber der Dicke hörte nicht zu. In einer verschmuddelten Uniform stand er vor Polidorios Schreibtisch, und er machte es wie alle hier. Wenn sie nicht kooperieren wollten, redeten sie irgendeinen Unsinn. Wenn man sie dazu befragte, redeten sie einen anderen Unsinn.

Polidorio hatte ihm weder Kaffee noch einen Stuhl angeboten, und er duzte ihn, obwohl der Mann dreißig Jahre älter war und vom Rang gleichgestellt. Für gewöhnlich waren das zuverlässige Mittel, diese Leute zu kränken. Aber der Dicke schien dagegen immun. Ungerührt redete er über nahe Rente, Fahrten mit dem Dienstfahrzeug, Gartenbau und Vitaminmangel. Zum vierten und fünften und sechsten Mal erläuterte er den Inhalt seiner Tankfüllung und sein Konzept des Gefangenentransports, sprach von Gerechtigkeit, Zufall und höherem Willen. Er zeigte auf die einander gegenüberliegenden Fenster (Wüste, Meer), auf die Tür (der lange Weg durchs Salzviertel), den defekten Deckenventilator (Allah) und trat mit dem Fuß gegen das am Boden liegende Bündel (die Ursache allen Übels).

Die Ursache allen Übels war ein an Händen und Füßen zusammengeschnürter Junge namens Amadou, den der Dicke in der Wüste zwischen Targat und Tindirma aufgegriffen hatte, ein Faktum, das in seinem endlosen Redeschwall nur sehr am Rande auftauchte.

Ob er schon einmal von Kompetenzen gehört habe, wollte Polidorio wissen, und bekam zur Antwort, dass erfolgreiche Polizeiarbeit eine Frage der Technik sei. Er fragte, was Technik mit dem Tatort zu tun habe, und bekam zur Antwort, wie schwierig es sei, in der Nähe der Oase Landwirtschaft zu betreiben. Polidorio fragte, was Landwirtschaft damit zu tun habe, und der Dicke redete von Versorgungsengpässen, von Flugsand, Wassermangel und Missgunst der Nachbarn auf der einen Seite, Wohlstand, Elektronengehirnen und hoher Polizeiorganisation auf der anderen. Er warf erneut einen Blick auf die defekte Hollerith-Maschine, sah sich mit gespieltem Entzücken im Zimmer um und setzte sich, da kein Stuhl in Reichweite war, auf den Gefangenen, ohne eine Sekunde seinen Redeschwall zu unterbrechen.

«Jetzt Ruhe», sagte Polidorio. «Ruhe. Hör mir zu.» Er ließ seine Handflächen einen Moment flach über der Schreibtischplatte schweben, bevor er sie rechts und links der Kaffeetasse entschieden auf zehn Finger stellte. Der Dicke wiederholte seinen letzten Satz. An seiner Hose fehlten zwei Knöpfe. An seinen fleischigen Ohrläppchen hingen Schweißtropfen und schwangen im Takt. Mit einem Mal hatte Polidorio vergessen, was er sagen wollte. Er spürte ein leises Pochen in den Schläfen.

Sein Blick fiel auf Hunderte kleiner Bläschen, die durch das Umrühren in der Tasse entstanden waren und sich nun zu einem kreiselnden Teppich zusammenschlossen. Als die Rotation schwächer wurde, wanderten die Bläschen zum Tassenrand, wo sie sich zu einem ringförmigen Wall auftürmten. Im Innern jedes Bläschens war ein kleiner Kopf eingeschlossen, der ihn mit zusammengekniffenen Augen anstarrte, in den kleinen Bläschen ein kleiner Kopf, in den mittleren ein mittlerer und in den großen ein großer. Das Auditorium bewegte sich militärisch synchron und verfiel für einige Sekunden in eine Art Totenstarre. Dann wurden alle Köpfe plötzlich größer, und als Polidorio ausatmete, starb ein Viertel seines Publikums.

Benzingutscheine, Wüstensand, Maul- und Klauenseuche. Kinderreichtum, Rebellen, Präsidentenpalast. Polidorio wusste, worum es dem Dicken nicht ging. Aber er wusste nicht, worum es ihm ging. Die Überstellung eines Verdächtigen nach Targat ergab keinen Sinn. Vielleicht, dachte er, war der Dicke mit seiner Sitzgelegenheit vage bekannt und wollte persönlichen Verwicklungen aus dem Weg gehen. Vielleicht war der Betriebsausflug an die Küste aber auch reiner Selbstzweck. Oder er hatte hier Geschäfte zu erledigen. Vielleicht wollte er das Hafenviertel sehen. Und mit Sicherheit ging es auch ums Geld. Allen ging es bei allem immer ums Geld. Wahrscheinlich wollte er ein paar Sachen verkaufen. Er wäre nicht der erste Dorfsheriff, der als Kompensation für ausbleibende Lohnzahlungen Schreibmaschine, Blankopapiere oder Dienstwaffe zum Suq trug. Und wenn es nicht ums Geld ging, ging es um Verwandte. Vielleicht hatte er einen Sohn hier, den er besuchen wollte. Oder eine dicke Tochter im heiratsfähigen Alter. Vielleicht wollte er in ein Bordell. Vielleicht arbeitete auch seine dicke Tochter in einem Bordell, und er wollte ihr seine Dienstwaffe verkaufen. Das war alles möglich.

Ein dumpfes Weckerrasseln unterbrach seine Überlegungen. Polidorio holte ein großes Stoffknäuel aus der untersten Schublade seines Schreibtischs und schlug mit der flachen Hand auf eine bestimmte, nur ihm erkennbare Stelle. Das Rasseln verstummte. Er zog eine Packung Aspirin aus derselben Schublade und sagte gereizt: «Jetzt genug. Jetzt hau ab. Hau einfach ab in deine Oase und nimm das da mit.»

Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Kopfschmerzen hatte er keine, aber wenn er jetzt keine Medikamente nahm, setzten die Schmerzen in genau einer halben Stunde ein. Jeden Tag um vier. Was die Ursache dieser periodischen Anfälle war, hatte sich bisher nicht klären lassen. Der letzte Arzt hatte die Röntgenbilder gegen das Licht gehalten, von Normvarianten gesprochen und Polidorio zu einem Psychologen geraten. Der Psychologe empfahl Medikamente, und der Apotheker, der von diesen Medikamenten noch nie gehört hatte, vermittelte ihn an einen weisen Mann. Der weise Mann wog vierzig Kilo, lag zusammengekrümmt auf der Straße und verkaufte Polidorio einen Zettel mit Beschwörungsformeln, der abends unters Bett gelegt werden musste. Seine Frau brachte schließlich eine Anstaltspackung Aspirin aus Frankreich mit.

Es war nichts Seelisches. Polidorio weigerte sich zu glauben, dass es etwas Seelisches war. Was sollte das für eine Seele sein, die jeden Tag um genau dieselbe Uhrzeit brüllende Schmerzen auslöste? Um vier Uhr nachmittags war nichts Besonderes. An der Arbeit konnte es nicht liegen, die Schmerzen kamen auch an freien Tagen. Sie kamen um vier und blieben bis zum Schlafengehen. Polidorio war jung, er war von athletischer Konstitution und ernährte sich nicht anders, als er sich in Europa ernährt hatte. In unmittelbarer Nähe des Sheraton gab es einen Laden mit Importwaren, einheimisches Wasser benutzte er nicht mal zum Zähneputzen. Das Klima? Warum hatte er dann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Kopfschmerzen?

In den einsamen Stunden der Nacht, wenn der Pesthauch der Hitze durch das Moskitonetz zu ihm drang, wenn das unbekannte Meer an die unbekannten Felsen schlug und die Insekten unter seinem Bett tobten, glaubte er zu wissen, dass es weder etwas Körperliches noch etwas Seelisches war. Es war das Land selber. In Frankreich hatte er niemals Kopfschmerzen gehabt. Nach zwei Tagen in Afrika setzten sie ein.

Er nahm die Tabletten in den Mund, spülte sie mit zwei Schluck Kaffee hinunter und spürte dem sanften Druck in seiner Speiseröhre nach. Es war sein tägliches Ritual, und es verletzte ihn, von dem hemmungslos vor sich hin redenden Dicken dabei beobachtet zu werden. Während er die Packung wieder in der Schublade verstaute, sagte er: «Oder sehen wir hier aus wie die Annahmestelle für Scheißprovinzprobleme? Hau ab in deine Oase. Du Kaffer.»