Stille. Kaffer. Er wartete auf die Reaktion, und die Reaktion kam mit nur einsekündiger Verzögerung: Der Dicke riss lustig seine Äuglein auf, formte mit dem Mund ein kleines O und wedelte schlaff eine Hand in Schulterhöhe. Dann redete er weiter. Oase, Straßenzustand, Hollerith-Maschine.
Zwei Monate war es her, dass Polidorio seine Arbeit hier angetreten hatte. Und seit zwei Monaten wollte er nichts anderes als nach Europa zurück. Schon am Tag seiner Ankunft hatte er festgestellt (und diese Feststellung mit einem Fotoapparat bezahlt), dass vor den fremden Gesichtern seine Menschenkenntnis versagte. Sein Großvater war selbst Araber gewesen, aber früh nach Marseille ausgewandert. Polidorio hatte einen französischen Pass und wuchs nach der Trennung seiner Eltern bei der Mutter in der Schweiz auf. In Biel ging er zur Schule, später studierte er in Paris. Seine Freizeit verbrachte er in Cafés, in Kinos und auf dem Tennisplatz. Die Leute mochten ihn, aber wenn es Streit gab, nannten sie ihn Pied-noir. Wäre sein Aufschlag besser gewesen, hätte er vielleicht Profi werden können. So wurde er Polizist.
Wie so vieles in seinem Leben war es Zufall. Ein Freund hatte ihn mit zur Aufnahmeprüfung genommen. Der Freund wurde abgelehnt, Polidorio nicht. Während der Jahre seiner Ausbildung veränderte sich die Gesellschaft, ohne dass er viel davon mitbekam. Er war kein politisch denkender Mensch. Er las keine Zeitungen. Der Pariser Mai und die Irren von Nanterre interessierten ihn so wenig wie die nach Luft schnappende Gegenseite. Gerechtigkeit und Gesetze waren für ihn ungefähr identisch. Die Langhaarigen mochte er nicht, aber hauptsächlich aus ästhetischen Gründen. Von Sartre hatte er zehn Seiten gelesen. Es sei einfacher, schrieb seine erste Freundin, als sie sich von ihm trennte, ihn durch das zu beschreiben, was er nicht sei, als durch das, was er sei.
Seine zweite Freundin heiratete er. Das war im Mai 1969, und er liebte sie nicht. Sie wurde sofort schwanger. Das erste Jahr war die Hölle. Als man ihm wegen seiner Arabischkenntnisse eine Stelle in den ehemaligen Kolonien anbot, nahm er sofort an. Hochglanz-Bildbände von malerischen Wüsten, primitive Holzskulpturen in Wohnzimmerschränken, das Gerede von den Wurzeln. Er hatte keine Ahnung von Afrika.
Was sich ihm stärker als alles andere einprägte, war der fremde Geruch auf dem Flughafen. Dann die Einsamkeit der ersten Wochen, bevor die Familie nachkam. Ein Bild in der Tageszeitung: Thévenet am Mont Ventoux. Postkarte eines Freundes: schneebedeckte Alpen. Der Gestank, die entsetzlichen Kopfschmerzen. Polidorio fing an, auf der Straße stehen zu bleiben, wenn jemand ein reines Französisch ohne asthmatisches Gurgeln sprach. Der Anblick von Touristen, ihre Ungezwungenheit, die heiter-blonden Frauen. Er stellte einen Antrag auf Rückversetzung, der französische Staat lachte ihn aus. Mit jeder Woche wurde er sentimentaler. Französische Touristen, französische Zeitungen, französische Produkte. Selbst die stets in Rudeln auftretenden Gammler und Langhaarigen, die im Gänsemarsch und mit fünfhundert Gramm Kif in den Taschen aus den Bergen zu Tal strömten, um sich anschließend von ihm die Handschellen anlegen zu lassen, erfüllten ihn mit einer Art von Rührung. Sie waren Idioten. Aber sie waren europäische Idioten.
Der Dicke redete noch immer. Polidorio schob die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch beiseite. Er wusste, dass er einen Fehler machte. Er griff mit beiden Händen über die Schreibtischkante, zog seinen Oberkörper nach vorn und spähte in den Abgrund.
«Zwanzig Dollar, ja?»
Der gefesselte Junge schien unter dem Gewicht des Dicken eingeschlafen zu sein.
«Der Herr Oberkommissar redet mit dir!», rief der Dicke und klatschte dem Gefangenen die flache Hand aufs Ohr.
«Zwanzig Dollar und ein Korb Gemüse?», wiederholte Polidorio.
«Was?»
«Ja, du!»
«Ja, was, Chef?»
«Ein paar Dollar und ein Korb Gemüse. Und dafür hast du vier Leute in Tindirma umgenietet?»
«Was?» Das Bündel begann, sich zu beleben. «Vier Leute wo?»
«Vier Leute in Tindirma. Vier Weiße.»
«Ich bin nie im Leben in Tindirma gewesen, Chef. Ich schwör!»
4. MS KUNGSHOLM
Eroberungen auf sexuellem Gebiet lösten in Ellsberg die gleiche kindliche Begeisterung und den gleichen Mitteilungsdrang aus wie vertrauliche Informationen über Nukleartechnik. Den Leuten der RAND Corporation beschrieb er seine neueste Liebschaft einmal mit den Worten: «Sie hat eine Lücke zwischen jedem Zahn.»
Es gibt nur wenige Menschen, die man in einem einzigen Satz beschreiben kann. In der Regel braucht man mehrere, und für gewöhnliche Menschen reicht oft ein ganzer Roman nicht aus. Helen Gliese, die mit weißen Shorts, weißer Bluse, weißem Sonnenhut und riesiger Sonnenbrille an der Reling der MS Kungsholm lehnte, mit halboffenem Mund Kaugummi kaute und auf das Gewimmel der Menschen am sich nähernden Ufer schaute, konnte man in zwei Worten beschreiben: schön und dumm. Mit dieser Beschreibung konnte man einen Fremden zum Hafen schicken und sicher sein, dass er unter Hunderten Reisenden die Richtige abholen würde.
Das Erstaunliche daran war allerdings nicht die Kürze der Beschreibung. Das Erstaunliche war, dass diese Beschreibung nicht im mindesten zutraf. Helen war nicht schön. Sie war eine Versammlung ästhetischer Gemeinplätze, ein Zuviel an Körperpflege und modischer Bemühung, aber schön im eigentlichen Sinne war sie nicht. Sie war jemand, den man am besten aus der Entfernung betrachtete. Manche Fotos von ihr hätte man auf die Cover von Modezeitschriften setzen können — ein Eindruck von Glattheit, Kälte und großen Linien. Doch sobald das Bild sich zu beleben anfing, wurde man merkwürdig verwirrt. Helens Mimik war mit sich selbst schlecht synchronisiert. Der schleppende, leiernde Singsang ihrer Stimme erzeugte den Eindruck einer Vorabendserienschauspielerin, der jemand die Regieanweisung reich und blasiert ins Drehbuch geschrieben hat, ihre Arm- und Handbewegungen wirkten wie die Parodie eines Homosexuellen, und dies alles zusammen mit dem Übermaß an Schminke und ausgefallener Kleidung konnte einen, wenn man Helen zum ersten Mal begegnete, mehrere Minuten — oder Stunden oder Tage — lang von der Erkenntnis ablenken, dass fast alles, was sie sagte, logisch und durchdacht war. Ihre Gedanken waren vollkommen klar, und sie formulierte sie mühelos. Noch überraschender war es, Briefe von ihr zu lesen.
Mit anderen Worten, Helen war das genaue Gegenteil von dumm, und wenn nicht das Gegenteil von schön, so doch von einer klassischen Vorstellung von Schönheit sehr weit entfernt; was nichts an der Tatsache änderte, dass diese Vom-Hafen-abholen-Geschichte funktionierte. Oder funktioniert hätte. Es war Helens erster Besuch in Afrika, und niemand holte sie ab.
5. DIE TAT EINES VERRÜCKTEN
Er riet uns, sogleich aufzubrechen, und erbot sich, uns zu begleiten und vor Verrat zu schützen. Diese freundliche Geste eines verschlagenen alten Barbaren gegenüber zwei völlig hilflosen Fremden rührte mich zutiefst.
Der Beschuldigte hieß Amadou Amadou. Jedes einzelne Indiz sprach gegen ihn, die Summe der Indizien war ein Todesurteil. Amadou war einundzwanzig oder zweiundzwanzig, ein schlaksiger junger Mann, der mit seinen Eltern und Großeltern und einem Dutzend Brüdern und Schwestern zwei Straßen vom Tatort, einer agrarischen Kommune in der Oase Tindirma, entfernt wohnte oder gewohnt hatte.
Die Kommune bestand überwiegend aus Amerikanern, einigen Franzosen, Spaniern und Deutschen, einer Polin und einem Libanesen, insgesamt doppelt so vielen Frauen wie Männern. Die meisten von ihnen hatten sich Mitte der sechziger Jahre in der Küstenregion um Targat kennengelernt und waren zufällig auf das Anwesen in der zwanzig Kilometer entfernten Oase aufmerksam geworden, ein billig zu mietendes, zweistöckiges Haus mit einem kleinen Stück Land. Der Traum vom natürlichen, selbstbestimmten Leben, eine Idee sozialer Selbstorganisation und so weiter. Keiner der Kommunarden hatte Erfahrung mit dieser Sorte praktizierter Utopie. Anfangs lebten sie von einem mühsam bewässerten Acker und einfachem Trödel, den sie den Einheimischen abkauften und in die Erste Welt exportierten, später kam gelegentlich Handel mit verbotenen Substanzen hinzu.