Den zunächst misstrauisch beäugten, langhaarigen, redseligen und orientierungslos herumtappenden Kommunarden gelang es durch ihre Offenheit und Hilfsbereitschaft relativ rasch, das Wohlwollen ihrer neuen Nachbarn zu gewinnen. Freundlich und großzügig streckten sie die Hände zur Gegenseite hin aus, und die Gegenseite griff zunächst zögerlich und dann überraschend fest und herzlich zu. Fremder Schmuck wurde bestaunt, Haare wurden betastet, Lebensmittel getauscht. Es war die Zeit des großen Redens, der langen Diskussionen und der angedeuteten Verbrüderungen. Es kam zu einigen kleineren Festen und erster Unruhe. Im Laufe des Sommers wurde die Zahl der ungebetenen Gäste, die versuchten, finanziellen Vorteil aus der Kommune zu ziehen, unüberschaubar. Auch medizinische, handwerkliche und sexuelle Dienstleistungen wurden verlangt und teilweise gewährt. Eine Kette mühseliger Auseinandersetzungen, kommunenintern Missverständnisse genannt, war die Folge, woraufhin man sich zunächst diffus und dann programmatisch von den Einheimischen nach und nach wieder zurückzog, sich auf ein reines Geschäftsverhältnis besann und schließlich sogar die einen Meter sechzig hohe Mauer um das Anwesen herum um einen weiteren Meter aufstockte. Einer nur knappen Mehrheit von zwei Stimmen war es zu verdanken, dass in den frischen Lehm der Mauerkrone keine Glasscherben gedrückt wurden. Dies alles geschah im Laufe weniger Monate.
Die beiden auffälligsten Figuren der Kommune waren der schottische Industriellenspross Edgar Fowler III und der französische Ex-Soldat und Herumtreiber Jean Bekurtz. In einem ihrer nüchternen Momente hatten sie die Idee zu der Kommune gehabt, mit ihrem ansteckenden Enthusiasmus Mitglieder — darunter eine beachtliche Zahl sehr gut aussehender Frauen — rekrutiert und einen groben Umriss dessen entworfen, was sie ihre Philosophie nannten.
Doch die Wüste änderte die Anschauungen rasch. War man anfangs im Graubereich eines diskutierfreudigen Marxismus angesiedelt, mehrten sich schon nach kurzer Zeit die Räucherstäbchen im Haushalt. Zwischen Kerouac und Castaneda verschimmelte ein halber Meter Trotzki, und die Idee eines körperlich dauerhaft ineinander verflochtenen Humankapitals («Das ist nur eine Metapher») scheiterte am Widerstand uneinsichtiger Frauenzimmer. Zum Zeitpunkt unserer Erzählung war die Kommune auf das Niveau einer mickrigen ökonomischen Zweckgemeinschaft herabgesunken — um deren Prosperität es nur geringfügig besser bestellt schien als zur Gründungszeit.
Um den Tathergang und alles Weitere verständlich zu machen, muss an dieser Stelle eine kurze Erläuterung gegeben werden, wovon wir sprechen, wenn wir von der Oase sprechen.
Archäologische Untersuchungen ergeben keine Anzeichen für eine Besiedlung des Ortes in früher Zeit. Noch um 1850 ist Tindirma eine Ansammlung dreier Lehmhütten um ein kärgliches Wasserreservoir an den Hängen einer vereinzelt in der Wüste aufragenden Felsnadel. Geologen sprechen von einem Kegelberg vulkanischen Ursprungs. Die höchste Erhebung liegt etwa 250 Meter über dem Meer und gestattet einen Blick, der auch an guten Tagen ringsum nichts als Sand erkennen lässt, den ein stetig von der Küste herwehender Wind in die Form eines endlosen Sicheldünenfeldes gepflügt hat. Nur den westlichen Horizont säumt eine Ahnung von Dunst und Grün und Blau.
Gelegen am Kreuzungspunkt zweier unbedeutender Karawanenstraßen, lassen erst die blutigen Kämpfe um das Massina-Reich die Oase wachsen. Versprengte Fulbe, die ohne Hab und Gut und vor allem ohne Vieh von Süden her eintreffen, halb nackt und halb verhungert, bewältigen den Übergang vom Nomadendasein zur Landwirtschaft. Aus drei Lehmhütten werden fünfzig, die zwischen struppigen Akazien und Doumpalmen die flacheren Felshänge hinaufrutschen.
Das Leben ist hart, und wie viele unfreiwillige Emigranten nennen die Fulbe den kargen Flecken Erde, den sie bewirtschaften, nach dem Ort, aus dem sie geflohen sind: Nouveau Tindirma. Innerhalb einer Generation verzehnfacht sich die Zahl der Unglücklichen.
Eine Geschichtsschreibung aus dieser Zeit existiert weder in schriftlicher noch in zuverlässiger mündlicher Form. Das erste Bilddokument ist eine Schwarzweißfotografie narbengesichtiger Männer aus den 1920er Jahren. Mit erloschenen Blicken und zu einem schwarzen Rechteck gepresst stehen sie auf der Ladefläche eines Thornycroft BX, der auf der frisch planierten Hauptstraße in das vor der Umgebung kaum sich abzeichnende Tindirma einfährt, im Hintergrund ein erstes zweistöckiges Gebäude.
Ende der dreißiger Jahre verwandeln zwei Ereignisse Tindirma von Grund auf. Das erste ist die Ankunft des verirrten Schweizer Ingenieurs Lukas Imhof, der eine Autopanne erleidet und von Einheimischen an der Reparatur seines Fahrzeugs gehindert wird. Praktisch ohne Hilfsmittel und nur mit der Unterstützung einiger Haratin bohrt Imhof in den folgenden Monaten einen vierzig Meter tiefen Brunnen neben den Kaafaahi-Felsen, der die Oase fortan überreichlich mit Wasser versorgt. Anschließend werden Imhof in einem feierlichen Akt zwei gereinigte Zündkerzen übergeben (Familienalbum, quadratisches Foto).
Das zweite ist der sich auswachsende Bürgerkrieg im Süden, der Tindirma in die strategisch günstigste Lage für den Schmuggel mit Waffen und Hilfsgütern bringt. Nur zwei oder drei Familien bestellen weiterhin ihre Hirsefelder, der Rest verabschiedet sich in die Nachtarbeit und überschwemmt die Gemeinde mit ungekanntem Wohlstand und die südlichen Pisten mit leblosen Körpern.
Etwa zeitgleich siedeln die ersten arabischen Händlerfamilien aus Targat über. Europäer mit dunklen Sonnenbrillen und akkurat ausrasierten Nacken fahren in olivgrünen Autos durch Tindirma, und 1938 installiert die Zentralverwaltung einen ersten Polizeiposten. Das Erscheinen der Staatsmacht ändert am Alltag zunächst wenig. Wer das ruhige Leben schätzt und es sich leisten kann, hält sich eine Privatarmee; die Polizei kämpft hauptsächlich um ihre eigene Sicherheit.
Der Übergang vom gesetzlosen zum halbzivilisierten Gebilde vollzieht sich erst mit der Verlagerung des Bürgerkrieges im Süden und Westen. Die mit Waffen gesättigte Region wird aufnahmefähig für andere Güter. Ehemalige Schmugglerkönige investieren in die Infrastruktur, einige Bars und ein erstes Hotel entstehen. Mitte der fünfziger Jahre gibt es für kurze Zeit ein kleines Lichtspielhaus. Eine asphaltierte Straße schiebt sich einige hundert Meter durch das Zentrum der Oase, fährt als schwacher Florettstoß zur Küste hin und versickert im Sand. Zwei kleinere Moscheen strecken ihre Minarettfinger in den gelben Himmel. Die Religion übt einen mäßigenden Einfluss auf das Leben der Gemeinschaft aus, stärkt die Schwachen und Rechtgläubigen und befestigt Sitten und Zivilisation durch die Klarheit des Gottesgedankens, durch Bildung und Scharia.
Parallel zum Eindringen staatlicher und religiöser Organe werden immer wieder Anläufe unternommen, dem Ort einen anderen Namen zu geben, die dunkle Vergangenheit vergessen zu machen, aber weder unter den Einheimischen, noch unter den Arabern oder den zwei oder drei Kartographen, die von der Siedlung bis zum Jahr 1972 Kenntnis nehmen, kann sich eine andere Bezeichnung als Tindirma durchsetzen.
Am Mittwoch, dem 23. August 1972, war laut Augenzeugenberichten Folgendes passiert: Amadou Amadou war angetrunken mit einem Auto, einem hellblauen, verrosteten Toyota, der ihm nicht gehörte, in den Hof der in der Nähe des Suqs gelegenen Kommune eingefahren. Dort hatte er, wie fünf Mitglieder der Kommune übereinstimmend berichteten, zunächst nicht näher bezeichnete Dienstleistungen feilgeboten, anschließend bei einem servierten Tee ebenso freizügige wie anatomisch unkorrekte Reden über Sexualität gehalten (vier Augenzeugen) bzw. philosophische Gespräche über das Geschlechterverhältnis begonnen (eine Zeugin), hatte sich anschließend offenbar unbeobachtet in der Küche selbständig weiter mit Alkohol versorgt und war zuletzt mit einer plötzlich aufgetauchten Schusswaffe in der Hand durch das Anwesen gestürmt, auf der Suche nach Wertgegenständen. Eine Dual-Hi-Fi-Stereo-Kompaktanlage im Gemeinschaftsraum habe als Erstes sein Interesse erregt, doch habe er sie allein nicht transportieren können. Ein weibliches Kommunemitglied, aufgefordert, ihm die Boxen zum Auto hinterherzutragen, habe sich geweigert, da die Anlage noch nicht vollständig bezahlt gewesen sei, woraufhin Amadou ihr ins Gesicht geschossen habe. Er habe dann zwei weitere Kommunarden erschossen, die hinzugekommen seien, um ihn (mit Worten oder wie?) zu entwaffnen. Bei der weiteren Durchsuchung des Anwesens (jetzt die Waffe wie einen an der Leine zerrenden Hund vor sich her tragend) sei ihm ein Bastkoffer in die Hände gefallen, der randvoll mit Geld gewesen sei (Papiergeld unbekannter Währung). Amadou habe nun alles andere vergessen und mit dem Bastkoffer fluchtartig das Haus zu verlassen versucht. Dabei habe er eine Sandale verloren, die in einen Treppenschacht gefallen sei, habe einen weiteren Kommunarden in einem Schrank erschossen und sich beim Verlassen des Hauses noch eines auf der Küchenanrichte stehenden gutgefüllten Obstkorbes bemächtigt. Etwa dreißig bis vierzig Augenzeugen, von den Schüssen in den Hof der Kommune gelockt, hatten Amadou gesehen, als er, um die Menge zu zerstreuen, in die Luft schießend in den Toyota gesprungen und in Richtung Küstenstraße davongefahren war. Auf halber Strecke war ihm mitten in der Wüste das Benzin ausgegangen, und er war vom kleinen, dicken Dorfsheriff verhaftet worden, der mit dem Verdächtigen wenig später in Polidorios Büro vorstellig wurde. Amadou hatte bei seiner Verhaftung nur noch eine Sandale getragen. Der Bastkoffer mit dem Geld war unauffindbar gewesen, der Obstkorb jedoch stand auf dem Beifahrersitz des hellblauen Toyota in der Wüste. Die noch warme Mauser lag im Handschuhfach. Ein zur Waffe passendes leeres Magazin wurde später im Hof der Kommune sichergestellt. Im Treppenschacht wurde eine Sandale gefunden, die der Sandale, welche Amadou am Fuß trug, spiegelbildlich glich.