Amadou beschäftigte sich in seiner Aussage mit keinem einzelnen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er stritt die Tat pauschal ab. Das war nichts Ungewöhnliches. In einem Land, in dem das Wort eines Mannes noch etwas galt, gab es praktisch keine Geständnisse. Die Standardaussage aller Beschuldigten in allen Ermittlungen lautete, sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe seien frei erfunden und sie fühlten sich tief in ihrer Ehre verletzt. Wenn Beschuldigte oder Angeklagte sich die Mühe machten, eine eigene Version des Tathergangs zu erfinden, nahmen sie in der Regel keine Rücksicht auf Details. Amadou machte hier keine Ausnahme. Die vorhandenen Fakten in das eigene Phantasiegebilde logisch zu integrieren, kam ihm nicht in den Sinn. Wie gelangte die Sandale in den Treppenschacht der Kommune? Wie kam das leere Magazin in den Hof? Wieso vermochten vierzig Augenzeugen Amadou eindeutig wiederzuerkennen? Amadou zuckte die Schultern. Das könne er beim besten Willen nicht sagen, und er verstehe nicht, warum man diese Fragen ausgerechnet an ihn richte. Sei es nicht vielmehr Aufgabe der Polizei, sie zu beantworten? Er zeigte auf irgendein elektrisches Gerät (Fernschreiber, Kaffeemaschine) und bat, man möge ihn an den Lügendetektor anschließen. Er schwor beim wahren und einzigen Gott, er erklärte, er könne nur angeben, was sich in Wirklichkeit zugetragen habe, und das sei er jederzeit zu tun bereit. Er, Amadou Amadou, habe einen Spaziergang in der Wüste unternommen. Das Wetter sei sehr lieblich gewesen, und der Spaziergang habe mehrere Stunden gedauert. (Das war nicht so unwahrscheinlich, wie es im ersten Moment klang. Viele Oasenbewohner waren im Zweitberuf noch immer Schmuggler.) Dabei habe er in einem Dornengestrüpp eine Sandale verloren. Dann habe er nahe der Piste einen verlassenen, hellblauen Toyota entdeckt und habe sich in das unverschlossene Auto gesetzt, weil auf dem Beifahrersitz ein köstlicher Obstkorb gestanden habe, und er, Amadou, habe mit dem Gedanken gespielt, etwas von diesem Obst zu essen, denn er sei sehr hungrig gewesen. Dies sei tatsächlich etwas, was man ihm vorwerfen könne, denn das Obst habe ihm nicht gehört. Er sei bereit, dies zu beschwören. In diesem Moment jedoch sei er von einem wie aus dem Nichts auftauchenden Polizisten verhaftet und nach Targat verbracht worden. Von einer Pistole im Handschuhfach sei ihm nichts bekannt.
Diese Aussage wiederholte er an vier aufeinanderfolgenden Tagen, ohne ein Wort zu verändern. Nur einmal, am Abend des vierten Tages und im Zustand starker Ermüdung, äußerte Amadou, er habe den Bastkoffer während der Flucht aus dem Fenster geworfen; er widerrief diesen Satz jedoch schon nach wenigen Minuten und wollte sich später nicht mehr dazu einlassen. Wollte überhaupt nichts mehr sagen, wenn man ihn nicht endlich schlafen lasse.
Und dann machte die Tatsache, dass die Opfer Ausländer waren, alles unendlich kompliziert. Polidorio hatte das Verhör nur am ersten Tag geleitet, am zweiten und dritten unternahm Canisades halbherzige Versuche, den Fall nach Tindirma zurückzuschieben; doch dann schaltete sich überraschend das Innenministerium ein, und die Angelegenheit wurde dem Dienstältesten Karimi übertragen.
Ein Mitglied der Regierung befand sich seit einigen Tagen in den USA und verhandelte über Waffenbrüderschaft und Entwicklungshilfe, als das Massaker ungewöhnlich ausführlich in der amerikanischen Presse auftauchte. Auch in Europa beschäftigte man sich damit, obgleich kein Europäer unter den Opfern war. In der Hauptstadt kam es zu unangenehmen Anfragen (der französische Botschafter, der amerikanische Botschafter, ein deutsches Nachrichtenmagazin), und die Konsequenz aus allem war, dass Karimi und ein Staatsanwalt sich in einem Hotel in Tindirma einquartieren mussten. Offiziell, um nochmals gründlich zu ermitteln, in Wahrheit, um die vor Ort aufgelaufenen Journalisten mit indiskreten Informationen über den Stand der Dinge und die Unzurechnungsfähigkeit des Täters grell illustrierenden Beispielen zu versorgen. Denn mochten die Opfer auch allesamt zugedrogte Hippies gewesen sein, die einen antiimperialistischen Kiffer-Betrieb in der Wüste leiteten — sobald es ernst wurde, zählte für die Erste Welt nur noch die Staatsbürgerschaft.
Amadou bekam von diesen Ehren wenig mit. Er zeigte weiterhin auf die Lügendetektor-Kaffeemaschine, schwor beim Leben seines Vaters und Vatersvaters, schwor beim wahren und einzigen Gott, rief den König und seine Familie um Beistand an und sagte, man könne ihn foltern und Schrauben in seine Fußsohlen drehen, er werde doch keinen Millimeter von der Wahrheit abweichen.
«Schrauben in die Fußsohlen», sagte Karimi. «Das sind Methoden, die hier selbstverständlich nicht zur Anwendung kommen. Im Ernst, wenn uns dein Geständnis interessieren würde, hätten wir das längst. Das ist dir hoffentlich klar. Dafür brauchen wir deine Füße nicht. Dafür brauchen wir überhaupt nichts. Nur, wen interessiert das? Hast du mal überlegt, wen deine Aussage interessieren soll? Hast du dir die Indizien mal angesehen?»
Amadou rutschte auf dem Stuhl hin und her und grinste. Karimi wandte sich an den Anwalt: «Haben Sie wenigstens mal versucht, ihm das zu erklären? Ein Zehntel davon bringt einen Mann unters Fallbeil.» Er drehte sich wieder zu Amadou. «Ob du redest oder nicht, ist scheißegal. Nicht mal das korrupteste Bohnengericht der Welt kann dich noch freisprechen. Du kannst die Klappe halten, oder du kannst reden. Der einzige Unterschied ist, wenn du redest, kriegt deine Familie eine ordentliche Leiche. Denk mal an deine Mutter. Nein, korrigiere — das ist natürlich nicht der einzige Unterschied. Der andere ist, wenn du redest, kannst du mal zum Pinkeln raus.»