Der Anwalt, der fast die ganze Zeit schweigend und nägelkauend dabeigesessen hatte, protestierte schwach. Dann verlangte er, sich mit seinem Mandanten unter vier Augen besprechen zu dürfen. Karimi zeigte auf ein in der Ecke stehendes Sofa, auf dem die Kommissare gewöhnlich saßen, wenn sie kifften.
Der Anwalt hätte mit Amadou in einen Nebenraum gehen können. Oder er hätte Karimi, Canisades und Polidorio bitten können, vor die Tür zu treten. Stattdessen führte er Amadou zu dem sieben oder acht Meter entfernt stehenden Möbel und erklärte ihm in gedämpftem Tonfall — wenngleich für die Polizisten deutlich vernehmbar — , dass die Indizienlage erdrückend und der Tag sehr heiß sei. Er fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu, vor den Augen Allahs sei ohnehin alles entschieden. Vor einem irdischen Gericht hingegen könne man in diesem Fall mit einem Geständnis weder etwas verbessern noch etwas verschlimmern, allein die sinnlose und entehrende Prozedur werde abgekürzt. Und ein Mann von Ehre, wie Amadou es sei usw. Der Mann war nicht gerade ein Staranwalt. Er hatte ein Bauerngesicht und trug einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug, in dessen Brusttasche wie ein verzweifelter Hilfeschrei ein senffarbenes Taschentuch steckte. Auf dem Kommissariat war nicht ganz klar, wo Amadous Familie den Mann überhaupt aufgetrieben hatte. Die Vermutung, er werde in Naturalien entlohnt, lag nahe. Amadou hatte sechs oder sieben Schwestern.
«Oh, Mann», sagte Canisades mit Blick auf den Schreibtisch. Er freute sich wie ein kleines Kind. «Oh, Mann. Oh, Mann.»
Polidorio sah auf seine Uhr, zog zwei Aspirin aus der Tasche und schluckte sie trocken. Mit hochgerecktem Kinn schaute er eine Weile zum Deckenventilator. Der Beschuldigte beharrte noch immer pantomimisch auf seiner Version: Spaziergang in der Wüste, Sandale, Obstkorb, Verhaftung. Er wand sich auf dem Sofa hin und her, und während der Anwalt seine Argumente zum dritten oder vierten Mal wie ein Grundschullehrer wiederholte, fing Polidorio plötzlich einen Blick des Angeklagten auf, den er so noch nicht gesehen hatte. Was war das für ein Blick? Es war der verzweifelte Blick eines nicht allzu intelligenten Menschen, dem in diesem Moment, während des monoton dahinplätschernden Redeflusses seines Anwalts, zu Bewusstsein kommt, dass sein Leben zu Ende ist, der Blick eines Mannes, der trotz erdrückender Beweislast bis vor wenigen Minuten davon ausgegangen sein musste, es gebe eine Chance, der Guillotine zu entgehen, ein Blick, der nicht allein verzweifelt, sondern auch überrascht schien, der Blick eines Mannes, dachte Polidorio, der — vielleicht unschuldig war.
Er blätterte in den Akten.
«Wo sind eigentlich die Fingerabdrücke?»
«Was für Fingerabdrücke?»
«Auf der Waffe.»
Karimi wickelte kopfschüttelnd eine Schokopraline aus dem Stanniolpapier.
«Wir haben vierzig Augenzeugen», sagte Canisades. «Und Asiz ist im Urlaub.»
«Das kann doch jeder andere auch?»
«Was kann jeder andere auch? Kannst du das?» Karimi, der unbedingt noch bei Helligkeit zurück nach Tindirma wollte, wo er eine Verabredung mit einem LIFE-Reporter hatte, schnaubte. «Nicht mal Asiz kann das. In der Palastwache hat er eine Woche lang das Gelände zugeklebt. Dann hatte er vierhundert Abdrücke, und die einzigen beiden, die erkennbar waren, waren vom achtjährigen Sohn des Hausmeisters.»
Polidorio seufzte und sah zum Anwalt hinüber, der aufgehört hatte zu reden.
Amadous Kopf war auf halbmast gesunken.
6. SHAKESPEARE
Ich bekam mal einen wundervollen Brief von der Ärzteschaft der medizinischen Fakultät in Boston, Massachusetts. Sie hatten mich zu der Person gewählt, die sie am liebsten operieren würden.
Helen war sich der Wirkung ihrer Person nie bewusst gewesen. Sie kannte sich nur von Fotos oder aus dem Spiegel. Ihrer eigenen Einschätzung nach sah sie gut, auf manchen Bildern sogar atemberaubend aus. Sie hatte ihr Leben im Griff, ohne besonders glücklich oder unglücklich zu sein, und sie hatte keine Probleme mit Männern. Jedenfalls nicht mehr als ihre Freundinnen. Eher weniger. Vom Beginn der Highschool an gerechnet, hatte Helen sieben oder acht Beziehungen gehabt, allesamt mit Jungen, die etwa in ihrem Alter, sehr nett, sehr wohlerzogen und sehr sportlich waren, Jungen, denen Intelligenz an ihren Freundinnen nicht sonderlich wichtig erschien und die sie auch an Helen selten bemerkten.
Helen machte sich keine Gedanken deswegen. Wenn Männer sich für geistig überlegen halten wollten, war sie nicht verstört. Meist hielten diese Beziehungen nicht lange, und ebenso schnell, wie sie zerbrachen, fanden sich neue. Ein Gang über den Campus in bauchfreiem T-Shirt, und Helen hatte drei Einladungen zum Abendessen. Die einzige Frage, die sie sich von Zeit zu Zeit stellte, war, warum die wirklich interessanten Männer sie nie ansprachen. Sie konnte sich das nicht erklären. Depressionen hatte sie wie alle anderen, nicht öfter. Aus Romanen wusste sie, dass die schönsten Frauen auch immer die unglücklichsten waren. Sie las viel.
Einen ersten Riss erhielt ihr Selbstbewusstsein, als sie zur Vorbereitung auf ein Referat ihre Stimme mit einem Tonbandgerät aufzeichnete. Helen hörte sich diese Aufzeichnung genau vier Sekunden lang an und hatte anschließend nicht den Mut, die Play-Taste ein zweites Mal zu drücken. Ein Außerirdischer, eine Tex-Avery-Figur, ein sprechendes Kaugummi. Ihr war bewusst, dass die eigene Stimme etwas Fremdes sein kann, aber die Laute auf dem Tonband waren mehr als fremd. Im ersten Moment hielt sie sogar einen technischen Defekt für möglich.
Der picklige Chemieprofessor, der ihr das Tonband geliehen hatte, erklärte, im Kopf mitschwingende Knochen und Resonanzräume seien die Ursache, dass der Mensch die eigene Stimme voller und wohltönender wahrnehme, als sie in Wirklichkeit sei, und Überraschung sei eine angemessene Reaktion. Er selbst hatte die Fistelstimme eines Kastraten und konnte seinen Blick beim Sprechen nicht von Helens Ausschnitt lösen. Sie veranstaltete keine weiteren Experimente in dieser Richtung und vergaß die Sache. Das war in ihrem ersten Jahr in Princeton.
Helen hatte die Zulassung mühelos geschafft und ein begehrtes Stipendium erhalten. Aber wie viele Studienanfänger reagierte sie auf das Verpflanztwerden in eine Welt voller fremder und abgezirkelter Rituale mit starker Verunsicherung. In ihrem Studentenwohnheim fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor im Leben. Sie stürzte sich in Studien, ging auch dem langweiligsten Smalltalk nicht aus dem Weg und mühte sich, feste Termine für die meisten Abende der Woche zu finden.
Durch die Vermittlung eines Bekannten, der englische Literatur studierte, kam Helen in Kontakt mit einer Laienschauspielgruppe, die vier- oder fünfmal im Jahr ein klassisches Stück, selten etwas Modernes, aufführte. Die meisten Teilnehmer der Gruppe studierten, aber auch zwei Hausfrauen, ein ehemaliger Professor, der sich gern nackt auszog, und ein junger Gleisarbeiter waren mit von der Partie. Der Gleisarbeiter galt als der heimliche Star der Gruppe. Er war 24 Jahre alt, hatte das Gesicht eines Filmschauspielers, einen Körper wie eine griechische Plastik und konnte sich — einziger Mangel — keinen Text merken. Nicht zuletzt um seinetwillen beschäftigte Helen sich fast drei Jahre lang mit den Dramen der elisabethanischen Zeit.
Zuerst bekam sie nur kleine Rollen, später spielte sie die Bianca in Der Widerspenstigen Zähmung und die Dorothea Angermann. Sie war nicht untalentiert, und sie hätte auch nichts dagegen gehabt, einmal die strahlende Heldin zu sein; aber die besten Rollen wurden, wie ihr schien, weniger nach Talent als nach Erfahrung besetzt. Wer am längsten dabei war, war Desdemona.