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Und dann spielten sie Die Katze auf dem heißen Blechdach. Man führte weniger das Stück auf, als dass man den Film nachspielte. Der Gleisarbeiter brillierte als Paul Newman, sah dem großen Vorbild irritierend ähnlich und humpelte derart lässig an Krücken über die Bühne, dass seine Unterhaltungen mit dem Souffleur wirkten wie ein raffinierter Teil des Stückes. Eine umwerfend schwarzhaarige Biologiestudentin aus dem vierten Studienjahr stellte Liz Taylor dar. Helen war Mae. Die bigotte Mae mit ihrer bigotten Familie. Man polsterte ihre Taille auf das Fünffache auf, puderte ihr die Haare grau, malte Apfelbäckchen unter die hohen Wangenknochen, steckte sie in ein kartoffeliges Kleid, und als halslose Kinder wurden ihr die Enkel des ehemaligen Professors zur Seite gegeben, denen man, da sie in Wirklichkeit Hälse besaßen, Zervikalstützen umgebunden hatte. Ihre Münder wurden mit Schaumgummi ausgestopft, und statt zu sprechen, gaben die Kinder ein vom Publikum begeistert begrüßtes, konsonantenloses Gequengel von sich.

Der Dozent, der die Gruppe leitete, nahm die Premiere mit der Doppel-8-Kamera auf. Es war das erste Mal seit ihrer Einschulung, dass Helen gefilmt wurde, und bei der Vorführung des Films musste sie den Raum verlassen. Sie ging auf die Toilette, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und übergab sich. In sehr aufrechter Haltung kehrte sie anschließend in den Vorführraum zurück, blickte anderthalb Stunden knapp an der Leinwand vorbei und lauschte dem monotonen Rattern des Projektors. Als nächstes Stück stand Schnitzlers Reigen auf dem Spielplan, aber noch bevor die spannende Frage beantwortet werden konnte, welche Rolle man ihr diesmal zuteilen würde, trat sie aus der Theatergruppe wieder aus.

Ihr Dozent bedauerte diesen Schritt. Außer ihm schien niemand groß Notiz davon zu nehmen. So wie niemand Notiz davon genommen hatte, was für eine durch und durch lächerliche und geistlose Vorstellung Helen auf der Bühne gegeben hatte. Zwar in gewisser Übereinstimmung mit der Rolle — um ehrlich zu sein, in genauer Übereinstimmung mit der Rolle — , aber die Figur doch auf eine Weise gelungen darstellend, die man nur schlecht als geschauspielert empfinden konnte. Diese Mimik, diese Intonation! Und niemand fand es bemerkenswert. Beim Schlussapplaus warf Helen noch einmal einen Blick auf die Leinwand. Lärmpegel und Pfiffe verdoppelten sich, als Mae im grotesken Baumwollhänger einen Schritt nach vorne tat, geziert die Arme um zwei halslose Ungeheuer legte und den Mund zu einem entsetzlich dümmlichen Lächeln verzog. Das letzte Bild auf einer knatternd sich drehenden Filmspule.

Auf der anschließenden kleinen Feier trank Helen zu viel Wein, und ihre letzte Handlung, bevor sie sich dauerhaft von der Gruppe verabschiedete, war, dem Gleisarbeiter ins Ohr zu flüstern, sie werde ihn flachlegen diese Nacht. Sie nannte Adresse und Uhrzeit und ging, ohne seine Reaktion abzuwarten. Dass sie ihre Worte bewusst drastisch gewählt hatte, um einen Misserfolg von vornherein zu rechtfertigen, machte es nicht besser.

Aber es war kein Misserfolg. Um ein Uhr nachts kratzten im Studentenwohnheim Fingernägel auf Holz. Paul Newman hatte einen Blumenstrauß in der Hand, der aussah wie auf dem Friedhof zusammengeklaubt, und wirkte erleichtert, als Helen die Blumen achtlos ins Waschbecken warf und eine weitere Flasche Wein entkorkte. Bei Sonnenaufgang gestand er schluchzend, eine Verlobte zu haben, erntete als Reaktion ein Schulterzucken, und sie sahen einander nicht wieder.

Im weißen Frotteebademantel schlich Helen über die Gänge des Studentenwohnheims, stieg mit hängendem Kopf zwei Treppen hoch und klopfte bei ihrer besten Freundin Michelle Vanderbilt. Oder vielleicht nicht ihrer besten, aber ihrer ältesten Freundin. Michelle und Helen kannten sich seit der Grundschule, und vom ersten Tag ihrer Freundschaft an bestand ein starkes und unveränderliches Machtgefälle zwischen den beiden Mädchen.

Eine der frühesten, entsetzlichsten und exemplarischsten Erinnerungen: die Sache mit dem Kanarienvogel. Vielleicht in der dritten Klasse, vielleicht sogar noch früher. Da saßen sie zwischen lauter Spielsachen auf dem Boden, als sie aus dem Nebenraum einen furchtbaren Schrei hörten. Michelles jüngerer Bruder. Sekunden später kam ein kleiner, gelber Federball über die Türschwelle zum Kinderzimmer gehüpft. Das Köpfchen hing schlaff pendelnd zur Seite. Michelle sprang panisch auf, der Federball schwirrte wie vom Windstoß getroffen zur Seite, kullerte in den Flur hinaus und näherte sich gefährlich der Treppe. Helen vertrat ihm den Weg. Der kleine Bruder rannte hysterisch hin und her. Mrs. Vanderbilt sank wie ohnmächtig auf einen Stuhl, streckte abwehrend beide Hände aus, und Michelle schrie Helen an: «Jetzt hilf ihm doch! Jetzt hilf ihm doch!»

Die achtjährige Helen, die keine Haustiere besaß und auch diesen Vogel noch nicht außerhalb des Käfigs gesehen hatte, hob ihn vorsichtig auf und hielt das Köpfchen mit einem Finger hoch. Es fiel hinunter. Sie schlug vor, das Tier ins Bett zu bringen oder seine Wirbelsäule mit Streichhölzern zu schienen. Niemand reagierte. Schließlich ging sie in das Vanderbilt’sche Wohnzimmer und schlug im Lexikon nach. Sie hangelte sich von Kanarienvogel über Notfall, Genickbruch und Fraktur bis zur Querschnittslähmung. Sie schlug Michelle vor, einen Arzt anzurufen oder eine Freundin, die ebenfalls einen Vogel hatte.

Am Ende schaffte Mrs. Vanderbilt es, einen Veterinär ans Telefon zu bekommen, der riet, das Tier von seinen Leiden zu erlösen. Die Dame des Hauses hielt den Telefonhörer weit von sich weg in die Luft, wiederholte laut die Worte des Arztes und sah sich hilfesuchend um. Doch kein Mitglied der Familie Vanderbilt war imstande, das Notwendige zu unternehmen, und so erbarmte sich schließlich Helen des Elends. Sie fegte den Vogel sacht in eine Plastiktüte, setzte beide Knie auf die Öffnung und schlug so lange mit einem Band der Encyclopædia Britannica auf das Dreidimensionale der Tüte, bis es zweidimensional war. Anschließend begruben sie das flache Ergebnis im Garten. Mrs. Vanderbilt stand weinend hinter der Gardine.

Es war mit Furcht gemischte Bewunderung, die Michelle an diesem Tag für ihre neue Freundin empfand, und dies blieb auch in den folgenden Jahren ihr beherrschendes Gefühl Helen gegenüber. Gelegentlich (und besonders während der Pubertät) kamen zu dieser Ehrfurcht noch eine Reihe anderer, sich abwechselnder Gefühle hinzu, Verständnislosigkeit, Schwärmerei, Wut, Eifersucht, vorsätzliche Kühle, fast Mitleid … und dann wieder noch größere Ehrfurcht und aufrichtige Liebe — sämtlich in ihrer Intensität gesteigert dadurch, dass das Objekt dieser widersprüchlichen Gefühle niemals auch nur den geringsten Unterschied zu bemerken schien.

Und so war der Tag nach der Filmvorführung ein ganz besonderer Tag für Michelle. Es war der erste und einzige Tag, an dem sie ihre Freundin schwach sah. Ein Häuflein Elend kam da im weißen Bademantel in ihr Zimmer geschlurft und verlangte nach Kräutertee und Zuwendung. Überwältigt von der Gelegenheit stieß Michelle das Messer in die Wunde und drehte es um: Das ginge doch jedem so, rief sie, jeder sei zunächst erschüttert, auch sie, Michelle, sei erschüttert gewesen, als sie neulich einmal zufällig ihre eigene Stimme auf Tonband gehört habe. Freilich kämen bei Helen noch die Bewegungen hinzu, und in Verbindung mit der Mimik sei das etwas, das man tatsächlich, wenn sie ehrlich sei … doch wenn man all die Jahre diesen Anblick … und es sei ja auch der Sinn von Freundschaft … letztlich gewöhne man sich. Und sie persönlich jetzt: wirklich kein Problem.

Michelle war in den Seminarräumen keine große Rhetorikerin, aber unter vier Augen und im herzlichen Gespräch konnte sie Textblöcke von beachtlichem Umfang in den Raum stellen. Auch wenn es in ihren Augen nur eine Lappalie war (Liebeskummer, Misserfolg oder eine Erkrankung der Hauskatze hätten sie mehr angestachelt), redete sie fast zwei Stunden ununterbrochen über das, was sie später die «Tonband-Sache» nannte.

Helen überhörte den gesamten Inhalt der Botschaft und nahm als Einziges deren Länge wahr. Man kann nicht zwei Stunden lang über etwas reden, sagte sie sich, das kein gravierendes Problem darstellt.