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Einige Monate lang übte sie mit einem Diktaphon schnellere, klarere Aussprache, ohne Erfolg. Gleichzeitig suchte sie, um ihren Bewegungen das Gezierte und Schleppende auszutreiben, nach einer Sportart, die, wie sie annahm, allem zuwiderlief, was ihr Spaß machen oder ihrem Körper angemessen sein könnte, und kam auf Karate. Als eine von zwei Frauen schrieb sie sich für einen Kurs an der Uni ein und begriff nach vier Wochen, dass man vieles im Leben ändern kann, aber nicht gewisse physiologische Gegebenheiten. Helen wurde kräftiger und geschickter, doch an der Art ihrer Bewegungen änderte das nichts. Sie war Mae im Keiko-Gi, Mae beim Yoko-geri, Mae auf der Matte. Es war eine deprimierende Zeit.

Trotz der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen gab sie das Karate nicht auf. Als der Kurs an der Uni eingestellt wurde, wechselte sie in eine professionelle Sportschule. Dort war sie die einzige Frau, und ihr fiel die unverminderte Aufmerksamkeit aller anderen Kursteilnehmer zu, fast ausnahmslos Polizisten aus einer nahen Akademie.

Als sie ihr Studium beendete, hatte sie zwei Abtreibungen hinter sich, besaß den Schwarzen Gürtel in zwei Kampfsportarten, hatte drei oder vier Polizisten zum Freund und keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Hervortretende Wangenknochen und erste Fältchen um Mund und Augen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Härte, die nicht das war, was sie sich einst als Kur gegen ihr Selbst verordnet hatte, aber auch nichts völlig Unpassendes. Sie schminkte sich.

«Hör auf deine innere Stimme», riet Michelle, aber im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Helen eine solche Stimme in ihrem Innern nirgends entdecken. Der bürgerlichen Existenz stand sie fremd gegenüber, und hätte sie die Art und Stärke ihrer Empfindungen mit denen anderer Menschen vergleichen können, wie es für die meisten Fünfundzwanzigjährigen kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, so hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie gefühlskalt war. Situationen, in denen andere schwelgten, bedeuteten ihr so wenig wie impressionistische Postkarten, ein Wurf junger Katzen oder Grace Kellys Verlobung, und ein unaufmerksamer Beobachter hätte sie für insgesamt leidenschaftslos halten können. Aber ihre Tagträume waren erfüllt von sonderbaren Bildern. Der Feuerwehrmann, der zwei röchelnde Kinder aus dem brennenden Haus schleppt, das hinter ihm zusammenbricht … der Flieger, der, seinen Cowboyhut schwenkend, breitbeinig auf der Atombombe zu Tal reitet … der gekreuzigte Spartakus, von Jean Simmons beweint … please die, my love, die now … sie bevorzugte das heroische Sujet.

7. LUNDGREN

No Chinaman must figure in the story.

Ronald Knox, Ten Commandment List for Detective Novelists

Und jetzt hatte Lundgren ein Problem. Lundgren war tot. Als man ihn an rahmengenähten Schuhen aus einer Kloake im Osten Tindirmas zog, war nur am Schnitt seiner Kleidung noch zu erkennen, dass er Europäer gewesen war. Spielende Kinder hatten den Körper entdeckt, vier Männer ihn geborgen. Niemand wusste, wer der Tote war, niemand wusste, wie er in die Oase gekommen war oder was er dort gewollt hatte, niemand vermisste ihn.

Die erneute Gräueltat an einem Weißen, nur drei Wochen nach dem Massaker in der Kommune, versetzte die Wüstenbewohner in eine angenehme Aufregung. Mit spitzen Fingern und Holzstöcken durchstocherten sie die Taschen seines Anzugs, fanden nichts von Wert — fanden überhaupt nichts … und besiegelten das Schicksal seiner Identität, indem sie den Leichnam zurück in die Kloake beförderten.

Ein alter Tuareg, der an Flussblindheit litt und sich von Kindern an Besenstielen herumführen ließ, stellte sich einige Tage lang am Ort des Verbrechens auf und erzählte gegen ein geringes Bakschisch, eine Hand voll Pistazien oder ein Glas Schnaps die grauenvolle Geschichte. Er hatte topasblaue Augen, in denen keine Pupille mehr war, blinzelte über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg und schwor, einen Tag vor Entdeckung der Leiche in der Wüste gewesen und durch ein unheimliches Geräusch am Himmel aufgeschreckt worden zu sein. Seine minderjährigen Begleiter hätten vor Angst mit den Zähnen geklappert und mit den Knien geschlottert, er jedoch, alter Kämpfer unter Moussa ag Amastan, habe mühelos den Überschallknall einer F-5 erkannt. Und richtig, sogleich hätten die Kinder ihm einen nadelfeinen Kondensstreifen im Blau beschrieben, aus dessen Mitte sich ein goldener Fallschirm geöffnet habe. Dieser Fallschirm und sein Schatten seien über der Flanke des Kaafaahi-Felsens wie sich paarende Adler aufeinander zu gekreist, wenig später sei ein Mann in teurem Anzug und auf allen vieren vom Berg hinunter in das Dickicht der Lehmhäuser gekrochen und verschwunden, den Fallschirm wie einen goldenen Pflug hinter sich her ziehend.

Besonders der Fallschirm erregte allgemeines Wohlgefallen unter den Zuhörern. Später erfand der Erzähler noch einen Sportwagen, einen Geheimdienst und vier Männer mit Eisenstangen hinzu, aber nach ein paar Tagen hatte jeder die Geschichten gehört, und es ließ sich kein Geld mehr damit verdienen. Man zerstreute sich wieder.

Die Wahrheit war: Es gab keinen Fallschirm. Es gab keine Eisenstangen. Die Wahrheit war: Niemand hatte etwas gesehen. In der ganzen Oase gab es nur eine einzige Person, die etwas wusste, und diese Person sagte nichts. Es war die Zimmerwirtin, bei der Lundgren am Tag seiner Ankunft Quartier genommen hatte, und sie sagte deshalb nichts, weil in dem winzigen Zimmer, das sie vermietete, nun ein herrenloses Gepäckstück voller wunderbarer Dinge stand.

Lundgrens Ankunft in der Oase war unspektakulär. Er war mit der Bahn nach Targat gekommen. Dort hatte er eine Dschellabah übergeworfen, sich einen lächerlichen Bart angeklebt und war mit dem Sammeltaxi und ohne ein Wort mit seinen Mitreisenden zu wechseln, in die Wüste gefahren. Einige Kilometer vor Tindirma hatte das Sammeltaxi eine Panne erlitten, und Lundgren, der glaubte, es eilig zu haben, war auf einen Eselskarren umgestiegen. Er gab dem Fahrer ein Bakschisch, damit der ihn durch eine bestimmte Gasse fuhr. Dann ließ er sich lange im Kreis herumkutschieren und stieg schließlich zwei Straßen von der besagten Gasse entfernt vor einer schäbigen Bar ab. Über der Bar gab es ein schäbiges Zimmerchen, das für gewöhnlich an schäbige Händler vermietet wurde. Jetzt stand es frei, wie ein Schild auf Arabisch und Französisch verkündete. Lundgren hatte eine Reservierung für das örtliche Zwei-Sterne-Hotel, aber er war kein Amateur. Er ließ sich das Zimmerchen zeigen.

Die etwa hundertjährige Wirtin führte ihn in den ersten Stock. Sie hatte ein Gesicht, das nur aus Falten bestand, mit zwei Löchern als Augen. Ihre Kiefer mahlten ununterbrochen, und aus dem jeweils tieferen Mundwinkel floss ein schwarzer Sud. Sie schloss eine niedrige Tür auf, dahinter eine Waschschüssel, eine Matratze, kein Strom. Kakerlaken flohen im Gänsemarsch an den Scheuerleisten entlang. Lundgren lächelte verbindlich — freundlich — und zahlte zwei Wochen im Voraus. Das Ungeziefer störte ihn nicht. Alte Sache: Wo es Araber gab, gab es auch Ungeziefer. Er wickelte eine Plastikfolie aus, die er mit Hilfe der Greisin über das Bett breitete, und bestrich die herabhängenden Ränder der Folie mit einer ockerbraunen, zähen Paste. Dann nebelte er das Zimmer mit einer Flitspritze ein und schloss die Tür. Was noch lebte, starb.

Die alte Frau beeindruckte das wenig. In der Küche bot sie Lundgren zu essen an, er lehnte dankend ab. Sie zog eine Flasche selbstgebrannten Schnaps unter der Schürze hervor, er behauptete, aus religiösen Gründen keinen Alkohol zu trinken. Anschließend bot sie ihm der Reihe nach einen Kaffee, einen Bohnenkaffee, einen Leihwagen, eine Prostituierte und ihre Enkelin an. Winziges Mädchen, garantiert keine zehn! Ihre dünnen, rissigen Lippen machten schmatzende Geräusche, um die verführerische Frische der Verwandtschaft anzudeuten. Lundgren sah die Greisin nachdenklich an, drückte ihr ein kleines Bakschisch in die Hand, ließ sich einen Schlüssel für die Haustür geben und sagte, er hieße Herrlichkoffer, aber sie solle mit niemandem darüber sprechen. Dann justierte er das Bärtchen auf seiner Oberlippe neu und spazierte hinaus in den Tod.