57. DIE STASI
A tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.
«Die Dingskapseln», sagte Cockcroft und lächelte spöttisch. «Sie haben die Dingskapseln. Kann es sein, dass wir eine kleine Pause brauchen?»
Er gab dem Syrer und dem Bassisten ein Zeichen, und die beiden verließen den Raum. Auf dem Gang hörte man Lachen.
Cockcroft beugte sich zum Gefangenen vor. Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch höflich nach oben. Mit trostlos aufrichtiger Miene saß er Carl gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen. Sein einer Fuß stand neben dem schwarzen Kästchen, der andere wippte in der Luft, während Carl vollkommen damit beschäftigt war, sich einen akzeptablen Aufenthaltsort für die Dingskapseln zurechtzulegen. Er wollte nicht den Anschein erwecken, lange darüber nachdenken zu müssen, und platzte heraus: «Ich habe sie Adil Bassir gegeben.»
«Ich weiß nicht, was Sie mit Dingskapseln meinen», sagte Cockcroft, «aber während wir uns hier gepflegt unterhalten, möchte ich Sie auf einen kleinen Umstand aufmerksam machen, der mir wichtig erscheint und der Ihnen unbekannt sein muss. Und ich meine nicht den Umstand, dass Herr Adil Bassir und seine drei Schergen wohl kaum in voller Rüstung und fahnenschwenkend hinter Ihnen her gewesen wären, wenn Sie ihm die von Ihnen so genannten Dingskapseln — oder was auch immer — vorher ausgehändigt hätten. Nein, ich meine den Umstand, dass ich gestern noch zwei Stunden mit Prof. Martinez gesprochen habe, einer absoluten Koryphäe auf dem Gebiet. Der Koryphäe. Es ist nicht ganz leicht, hier Ferngespräche durchzukriegen, und es kostet ein Vermögen, aber Prof. Martinez, um das mal in aller Bescheidenheit zu sagen, ist vollkommen meiner Meinung. Von Globaler Amnesie kann keine Rede sein. Um eine Globale Amnesie vorzutäuschen, dazu reichen Ihre Kenntnisse vorn und hinten nicht, so leid es mir tut. Und wenn meine beiden Kollegen gleich zurückkommen, werden wir Ihnen das mit etwas schmerzhafteren Methoden auch noch einmal demonstrieren. Sie dürfen sich dann schon mal auf einen neuen Spielleiter freuen. Denn für das, was dann kommt, bin ich leider zu zart besaitet. Aber wir haben jetzt sicher noch ein paar Minuten unter vier Augen, und wenn Sie mir auf den letzten Drücker doch noch irgendetwas erzählen wollen … nein? Na schön, dann nicht. Es hätte sich nur gut gemacht in meiner Personalakte. Aber Ihre Entscheidung. Dann warten wir jetzt einfach auf die Rückkehr des Fachpersonals. Schweigend, wenn Sie wollen. Oder soll ich Ihnen einen Witz erzählen?»
«Ist das Teil der Folter?»
«Wahrheitsfindung. Ihnen geht’s ja blendend.»
Cockcroft stützte beide Hände hinter sich auf die Kiste, blickte ein wenig undurchsichtig den Gefangenen an und sagte schließlich: «Die CIA.»
Carl schloss die Augen.
«Die CIA, der KGB und die Stasi machen einen Wettbewerb. Stasi ist Staatssicherheit, falls Sie das nicht wussten. Der deutsche Geheimdienst. Wussten Sie nicht? Ah, man spricht nicht mit mir. Egal. Also, CIA, KGB und Stasi machen einen Wettbewerb. In einer Höhle befindet sich ein prähistorisches Skelett, und wer das Alter des Skeletts am genauesten bestimmen kann, ist der unsterbliche Sieger. Der CIA-Mann geht als Erster rein. Nach ein paar Stunden kommt er wieder raus und sagt, das Skelett ist circa 6000 Jahre alt. Die Juroren staunen. Das ist verdammt gut, wie haben Sie das so genau rausgefunden? Sagt der Amerikaner: Chemische Substanzen. Als Nächster ist der KGB-Mann dran. Nach zehn Stunden kommt er wieder aus der Höhle: Das Skelett ist etwa 6100 Jahre alt. Sagen die Juroren: Ausgezeichnet, Sie sind noch näher dran! Wie haben Sie das gemacht? Sagt der Russe: Kohlenstoff-Methode. Als Letzter ist der Stasi-Mann an der Reihe. Er bleibt zwei Tage in der Höhle. Vollkommen erschöpft kriecht er wieder raus: 6124 Jahre! Den Juroren steht der Mund offen. Das ist das genaue Alter, wie haben Sie das rausgekriegt? Zuckt der Stasi-Mann die Achseln: Er hat’s mir gestanden. Finden Sie nicht lustig? Ich find’s lustig. Oder ein anderer Witz, der gefällt Ihnen bestimmt. Ein hochrangiger israelischer Militär sucht eine Sekretärin.»
«Ich will das nicht hören.»
«Was wollen Sie dagegen machen? Er sucht eine Sekretärin.»
«Ich will es nicht hören.»
«Und er fragt die erste Bewerberin: Wie viele Anschläge schaffen Sie pro Minute?»
Carl schloss die Augen, drehte den Kopf hin und her und machte: «Lalalala.»
Mittlerweile waren der Bassist und der Syrer zurückgekehrt. Der Bassist hatte eine Tupperware-Dose in der Hand. Umständlich öffnete er sie und entnahm ihr ein Sandwich, das er Cockcroft über die Schulter reichte. Cockcroft biss einmal davon ab und sagte mit vollem Mund: «Ich erzähle diesen Witz seit vielen Jahren, und es ist einer der besten Witze, die ich kenne. Verzeihung.» Er bürstete ein paar Krümel von Carls Hose. «Jeder, dem ich ihn bisher erzählt habe, hat darüber herzlich lachen können, und Sie werden hier keine Ausnahme machen. Hören Sie ihn sich bitte ganz genau an, und wenn die Pointe kommt, dann lachen Sie als Zeichen Ihrer geistigen Reife. Er sucht also eine Sekretärin.»
Zwei oder drei Witze später wusste Carl nicht mehr, ob er noch bei Bewusstsein war oder träumte. Zwischen verklebten Augenlidern hindurch nahm er an der Metalltür eine Bewegung wahr. Die Klinke war langsam hinabgesunken, und die Tür hatte sich einen Spaltbreit geöffnet. Oder hatte sie die ganze Zeit offen gestanden? Nein, sie war gerade erst geöffnet worden. Und sie öffnete sich weiter, Millimeter für Millimeter. Carl riss seinen Blick davon los und starrte Cockcroft in die Augen.
Cockcroft und der Bassist saßen mit dem Rücken zur Tür. Der Syrer hatte auf der grauen Kiste Platz genommen, blickte auf seine Füße, die mit den blauen und gelben Kabeln spielten, und dann sagte eine sehr schleppende, blasiert und leiernd klingende Frauenstimme: «Sorry to interrupt. Can you tell me where to find the tourist information?»
58. DAS VANDERBILT-SYSTEM
Im Menschenhirn sind viele Areale ungenutzt, was darauf deutet, dass unserer Evolution ein langfristiger Plan zugrunde liegt, dessen Erfüllung zur längsten Frist noch vor uns liegt.
Das Keltische Kreuz funktionierte nicht. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass das Klapptischchen an der Lehne des Vordersitzes viel zu klein war. Darauf hatten maximal sechs Karten Platz, wenn man sie als Rechteck anordnete. Schon während Michelle mit konzentriertem Schlucken, Augenschließen und dem Abruf verschiedener Kindheitserinnerungen die Startphase des Düsenflugzeugs überstand, war ihr der Gedanke gekommen, die Karten weiter hinten auf dem Teppichboden der 727 auszubreiten. Aber die Maschine war noch keine Viertelstunde in der Luft, als Geschäftsleute in Zweireihern, Touristen in Bequemhosen und Mütter mit kleinen Kindern begannen, den Gang zur Toilette zu blockieren. Hätte sie dort das Kreuz ausgelegt, hätte sie alle diese Leute um Verzeihung bitten, ihr Tun rechtfertigen, Anfängerfragen beantworten und Interesse oder Verständnislosigkeit ertragen müssen. Ed Fowler hätte das gekonnt. Und wäre Ed bei ihr gewesen, hätte Michelle sich stark genug gefühlt, es auch zu können. Aber an manchen Tagen — und dies war ein solcher Tag — beunruhigte sie schon der Blick in das Gesicht eines Fremden.
Mit dem Handballen rieb sie den Tisch vor sich sauber. Sie ignorierte den dicken, schnaufenden Mann links neben sich und sah nicht einmal aus dem Fenster hinaus auf die weißen Wolken, unter denen ein Abgrund gähnte. Sie schloss allerdings auch nicht die Jalousie, um den Energiefluss nicht zu stören. Sie konzentrierte sich ganz auf das Tischchen. Zwei mal drei Karten, mehr Platz war nicht. Da hätte man zur Not das Kleine Kreuz machen können, aber Michelle hatte keine guten Erfahrungen mit kleinen Legesystemen gemacht. Kleine Systeme — für kleine Probleme. Bei großen Ausgangsfragen brauchte man mehr als vier Karten, sonst wurde das Ergebnis leicht schematisch. In der Kommune hatte sich für alle wichtigen Entscheidungen eine Erweiterung des Keltischen Kreuzes mit dreizehn Karten durchgesetzt, die sich hier unmöglich improvisieren ließ, selbst wenn Michelle die Armstützen, ihre Oberschenkel und das kleine Stück Sitzfläche zwischen ihren Beinen zu Hilfe nähme. Sie klappte den wackligen Speisetisch hoch und wieder runter. Ein kleineres Blatt, eine Art Reisetarot, dachte sie, hätte hier Abhilfe geschaffen. Vielleicht streichholzschachtelgroße Karten, fotomechanische Verkleinerungen ihrer Stiche. Mit ein wenig kaufmännischem Talent könnte man daraus wahrscheinlich einen Verkaufsschlager machen und reich werden. Man könnte die Spiele an Bahnhöfen und Busbahnhöfen anbieten, auf Schiffen, Flughäfen oder in Duty-free-Shops, überall, wo beengte Verhältnisse herrschten. Oder die Fluggesellschaften gleich direkt beliefern! Dann würden die Karten schon beim Einsteigen mit Zeitungen, Obst und Erfrischungstüchern zusammen an aufgeschlossene Passagiere gereicht. Ungeübten könnte die Stewardess nach ihrer Verhalten-im-Notfall-Choreographie mit gleicher Anmut das Keltische Kreuz demonstrieren. Michelle schloss die Augen und sah sich selbst in einer hellblauen Uniform die Bewegungen machen. Als der Wagen mit den Speisen und Getränken an ihr vorüberrumpelte, bestellte sie einen Kaffee. Der dicke Mann neben ihr nahm zwei Whisky, trank sie auf ex, warf Michelle einen Blick zu und versank erneut schnaufend im Halbschlaf. Ein Speichelfaden pendelte aus seinem leicht geöffneten Mund.