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Cockcroft, Helen und der Syrer standen mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm wie Spielkameraden. Dass sie sich über etwas hermachten, was eben warm und stinkend seinen Körper verlassen hatte, erfüllte ihn mit einer sonderbaren Wehmut. Es lag etwas Symbolisches in diesem Vorgang, etwas Grauenvolles, die dunkle Ahnung, dass sie auch andere Teile und Güter seines Körpers von ihm trennen und in Besitz nehmen könnten. Carl wandte den Blick wieder den Ameisen zu.

Nachdem der Bassist den Kot auf der ganzen Zeitung wie auf einem großen Nutella-Brot ausgestrichen hatte, verkündete er mit dem Gesichtsausdruck und im Tonfall eines Achtjährigen: «Hier ist nix», und drei blaue und ein schwarzes Augenpaar wanderten zu dem Mann, der nackt und schniefend auf dem Boden lag.

Helen schob Carl mit dem Fuß seine Kleider zu, und nachdem er sich mehr oder weniger allein wieder angezogen hatte, banden sie ihn erneut auf den Stuhl.

«Dann weiter mit der Zwei», sagte Cockcroft. Und zu Helen: «Ihr Mann.»

60. DIE LEGENDEN DER STANDHAFTEN

There has been a good deal of discussion of interrogation experts vs. subject-matter experts. Such facts as are available suggest that the latter have a slight advantage. But for counterintelligence purposes the debate is academic.

KUBARK-Manual

Die dünne, aber sehr gerade und aus schwarzen Punkten bestehende Linie wimmelte rechts an Carls Stuhl vorbei in den hinteren Teil der Höhle, wo er sie mit den Augen nicht weiter verfolgen konnte. Zur anderen Seite hin lief sie mit kleinen orangefarbenen Körnchen beladen unter der Metalltür hindurch in die Freiheit.

Während Carl sich noch über das Schicksal der Ameisen Gedanken machte, nahm Helen ihm gegenüber Platz. Die anderen hatten den Raum verlassen. Sie zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie aber nicht an und begann, in der ihr eigenen schlaff und wie betäubt wirkenden Art, mit der Zigarette in der einen Hand und dem Feuerzeug in der anderen zu reden und zu gestikulieren. Sie schlug die Beine übereinander, und Carl zerrte an seinen Fesseln, als habe er Schmerzen. Tatsächlich hatten sie ihn nicht so fest gebunden wie beim ersten Mal, und seine rechte Hand, die er kaum noch spürte (er wagte nicht hinzusehen), rutschte Millimeter für Millimeter weiter aus den Stricken. Er sagte: «Du weißt, dass ich nichts weiß», und Helen sagte: «Ich weiß gar nichts.» Wie um zu zeigen, dass sie nicht unterbrochen zu werden wünschte, zog sie das schwarze Kästchen mit dem Fuß zu sich heran und hob es auf ihren Schoß, wo es auf den weißen Shorts und den nackten Oberschenkeln hin und her schaukelte.

«Jetzt, wo fangen wir an? Du magst dich fragen, warum so ein Aufstand wegen einer solchen Kleinigkeit? Denn es ist eine Kleinigkeit, ob du das weißt oder nicht. Jedenfalls für uns. Die Konstruktion kennt jeder Student, und das Ganze ist nicht so raffiniert, dass ein paar kluge Köpfe es nicht irgendwie zusammensetzen könnten. Immerhin raffiniert genug, dass wir keinen schwunghaften Exporthandel damit veranstalten können. Oder wollen. Abgesehen davon, dass auf der Route noch anderer Mist transportiert wurde.» Helen hob Zigarette und Feuerzeug hoch, ließ aber beide Arme sofort wieder sinken. «Du bist nicht der Erste, der sich da versucht. Du bist nur der Erste, den wir erwischen. Oder der Zweite. Aber der erste Lebende, und deshalb bist du auch der Erste, der sein Wissen mit uns teilen wird. Denn wie du vielleicht weißt, geht es bei unserem kleinen Spiel hier nicht darum, ob du uns die Wahrheit sagst. Das hängt nicht von dir ab. Was von dir abhängt, ist allein der Zeitpunkt, zu dem du dich entschließt, uns die Wahrheit zu sagen. Du kannst dich eine Weile selbst quälen, du kannst es hinauszögern, aber vermeiden kannst du es nicht. Wenn du eine ordentliche Ausbildung bezüglich Verhalten in Verhörsituationen hast — wovon wir bedauerlicherweise ausgehen müssen — , weißt du das auch. Du weißt, dass du plumper Gewaltanwendung mit Willenskraft, Autosuggestion und ähnlichem Schnickschnack eine Weile standhalten kannst. Vorausgesetzt, du bist gut. Vielleicht ein, zwei Tage. Vielleicht sogar drei, man hat schon Pferde kotzen sehen. Carthage», Helen deutete mit dem Daumen hinter sich, «behauptet, jemanden zu kennen, der es fünf Tage gemacht hat. Aber das glaube ich nicht. Das sind diese Legenden vom tapferen Soldaten, der von glühenden Kohlen versengt seine Brigade, seine Heimat, seine Familie nicht verrät und dem man anschließend Denkmäler aufstellt, auf denen er mit zwei intakten Marmoraugen nachdenklich zum Horizont schaut, zufrieden, noch alle vier Gliedmaßen zu besitzen. Aber entweder sind das Legenden. Oder die Verhörspezialisten waren unfähig. In den meisten Fällen waren sie wohl unfähig. Und zumindest in diesem Punkt kann ich dich vollkommen beruhigen.» Helen steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und blies den Rauch gegen die von Meißelschlägen schartige Decke.

«Und ich kann dir deine Entscheidung auch noch etwas erleichtern. Indem ich mal erzähle, was wir wissen. Dass du nicht denkst, dass du irgendwen oder was decken müsstest. Oder könntest. Weil, was wissen wir? Wir wussten, dass die Übergabe in Tindirma stattfindet. Und auch wann ungefähr. Wir wussten, wer es übergibt, aber nicht an wen. Im Hotel gab es eine Reservierung für einen Mann namens Herrlichkoffer. Herrlichkoffer, das ist deutsch und heißt so viel wie Herrlichkoffer. Sagt dir das was? Nein? Glaub ich sogar. Wir haben diesen herrlichen Koffer jedenfalls am Flughafen in Targat ausfindig gemacht und nach Tindirma verfolgt, und dort haben wir ihn verloren. Er ist im Hotel nicht aufgekreuzt. Und wir hätten natürlich vorher zugreifen können, aber wir wussten auch nicht, ob er das Ding dabeihat. Oder wo es ist. Wir wussten nicht mal genau, was es ist oder in welcher Form es transportiert wird. Wir wussten nur, wo es herkommt, aus welchen Forschungslabors. Und dann haben wir fast vierundzwanzig Stunden gebraucht, um den Mann wiederzufinden. Aber da war anscheinend noch nichts passiert. Der saß da Tag für Tag im Café wie bestellt und nicht abgeholt. Wir haben einen Kerl davor hingesetzt mit Funkverbindung im Ohr, und der meldete: nichts. Entweder war der blind, oder unser Mann hatte Verdacht geschöpft. Oder aber er war gar nicht unser Mann. Und da kam dann das Massaker. In der Kommune. Und da haben wir einen klitzekleinen Fehler gemacht. Den wahrscheinlich jeder gemacht hätte. Denn was war das? Eine Gruppe von Kommunisten und Hippies und Langhaarigen, politisch wirr, vier Tote, Unmengen Geld weg … klar, dachten wir, wir sind am falschen Mann dran. Also rein in die Kommune. Unsere Leute sind aber nicht reingekommen. Die hatten sich sofort abgeschottet, Presse und alles. Und Trauer. Und als rauskam, dass da eine alte Schulfreundin von mir drinsitzt, haben sie mich geholt. Ich war zu der Zeit in Spanien. Aber nachdem ich der Kommune einen Besuch abgestattet hatte und nachdem Michelle mir auch noch mal klargemacht hatte, dass Geld in Wirklichkeit gar nicht im Spiel war, dass das wohl wirklich nur ein arabischer Irrer mit Sexproblemen gewesen ist, dieser Amadou im Quadrat, da hatten wir die Spur komplett verloren. Herrlichkoffer hatte sich in Luft aufgelöst, und das kriminelle Potential dieser Hippies hätte nicht ausgereicht, einen Riegel Schokolade durch den Schweizer Zoll zu schmuggeln. Also alles abgeblasen. Ich war auch in Gedanken schon längst wieder daheim — da läuft mir dieser Araber über den Weg. An der Tankstelle mitten in der Wüste. Blutend, wirr, hilfesuchend und offensichtlich auf der Flucht. Und das war nur so eine Ahnung, dass ich dich da eingesammelt hab. Ich hab gedacht, wer weiß. Weil, dein Gerede vom Gedächtnisverlust, das war ja alles Quatsch. Meine erste Einschätzung war: Mitleidstour. Araber auf der Suche nach der weißen Frau. Neunzig Prozent. So hab ich das am Abend jedenfalls rausgemeldet. Aber ich war mir nicht sicher. Wir waren uns ganz lange nicht sicher. Und erst als Bassir dich gecasht hat … die reinste Katastrophe. Da hätten ein paar Leute hier fast ihren Job verloren. Hundert Mann um dich rum, und die stopfen dich einfach in den Kofferraum. Ich hab noch nie so viele Trottel auf einem Haufen gesehen. Alles Amateure. Unser ganzes Team. Wir hatten ja keine vierundzwanzig Stunden, das zusammenzustellen und in die Wüste zu karren. Ich hab nicht mal einen Flug gekriegt, ich musste mit dem Schiff von Spanien kommen. Zwei andere sind in New York hängengeblieben. Und allein, was sich unser kleiner Thoraschüler alles geleistet hat! Der Zettel für die Praxis, ich bin ja fast gestorben, als ich das aus dem Briefkasten gefischt hab. Schnupperpreise! Und so ging das die ganze Zeit. Du hast, denke ich mal, keine Vorstellung davon, was es bedeutet, im August ein Kommando zusammenzubauen. Zwei von uns können nicht mal Französisch. Einen Arabisch-Übersetzer hatten wir gleich gar nicht, da mussten wir aus Belgien noch einen einfliegen, der liegt jetzt mit Magen-Darm-Grippe im Hotel. Unser Funker ist schwerhörig, kommt aus Iowa und hat die ersten 48 Stunden geglaubt, dass er in Libyen operiert. Zwei sind auf der Suche nach der Mine fast verdurstet. Und Herrlichkoffer war schon tot, bevor wir ihn überhaupt verkabeln konnten. Ein kleines Missgeschick. Und so weiter. Und dass Bassir dich wegfischt — wie gesagt. Ein unglaubliches Gestümper. Aber dass du dich dieser Brigade von Stümpern immer wieder vertrauensvoll in die Arme geworfen hast, sollte dir auch klarmachen, dass du nicht der hellste Stern am Himmel bist.»