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«Wichtiger als ein Menschenleben?», raffte Carl sich auf.

«Du redest jetzt von dir? Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben.» Helen fuhr mit dem Zeigefinger an Carls bekleckertem Pullover herunter. «Auch wenn es das Leben eines Lügners ist. Das Leben eines Schmugglers. Eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert. Sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung, und Statistikabteilung bedeutet: Es besteht eine vielleicht einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. Dass du nicht weißt, wer du bist. Dass du zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort warst, und das gleich mehrfach. Schulkinder, Leichen mit Drahtschlingen in der Wüste und Ausweise in der Tasche und was nicht alles. Kann alles sein. Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. Sondern Quatsch. Dass hier ein Mann die Finger ausgestreckt hat nach etwas, was ihm nicht gehört. Und dass er es auch nicht verloren, sondern weitergegeben hat. Oder gebunkert. Neunundneunzig Prozent. Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. Neunundneunzig Prozent, dass unsere kleine Untersuchung einem friedlichen Zusammenleben ohne Atomwaffen dient. Neunundneunzig Prozent für das Fortbestehen des Staates Israel, für glückliche Kinder, grasende Kühe und den ganzen anderen Scheiß. Neunundneunzig Prozent, dass es hier nicht um ein Menschenleben geht, sondern um Millionen. Neunundneunzig Prozent für die Sache von Aufklärung und Humanismus und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt. Mal ehrlich», sagte Helen, hob sanft sein Kinn mit zwei Fingern an und sah ihm in die Augen. «Hundert zu eins. Oder eine Million zu eins. Wie werden wir jetzt weiter vorgehen? Was denkst du? Ich kann dir einen Tipp geben. Die Statistikabteilung agiert traditionell leidenschaftslos.»

«Du kennst mich. Du hast mich erlebt.»

«Du kennst dich ja nicht mal selbst. Sagst du.»

«Aber warum hätte ich dir das alles erzählen sollen, was ich dir erzählt hab?»

«Weil du dumm bist?», sagte Helen. «Weil du bis zuletzt keine Ahnung hattest, zu wem du ins Auto gestiegen bist? Weil du dachtest, die blonde, kaugummikauende Frau würde dir noch einmal sehr weiterhelfen? Wir wissen ja nicht mal, ob es diese Kapseln überhaupt gibt. Oder in welcher Form —»

«Du weißt es», sagte Carl. «Du weißt, dass ich nichts weiß.»

«Ich weiß es, wenn wir hier zu Ende sind. Wenn wir hier zu Ende sind und alle unsere schönen Geräte ausprobiert haben, dann werde ich es wissen. Dann glaube ich dir und entschuldige mich — mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent. Aber du kannst mir auch glauben: Wenn wir hier zu Ende sind, hast du alles gesagt, was du weißt. Denn so leid es mir tut, wir sind die Guten in dieser Sache. Und du bist es nicht. Ob du das weißt oder nicht. Aber du hast deine Hände dadrin, und du hast etwas, was uns gehört. Was wir entdeckt haben. Unsere Wissenschaftler. Und deshalb sind wir die Guten: Wir haben die Bombe gebaut und Schreckliches damit angerichtet. Aber wir haben daraus gelernt. Wir sind das lernfähige System. Hiroshima hat den Krieg verkürzt, über Nagasaki kann man streiten — aber ein drittes Mal passiert das jetzt nicht. Wir werden verhindern, dass es ein drittes Mal passiert. Die Bombe in unseren Händen ist nichts weiter als ein ethisches Prinzip. Dieselbe Bombe in euren Händen, und wir steuern auf eine Katastrophe zu, mit der verglichen alles andere nur ein leichter Kopfschmerz war. Und warum sage ich dir das alles? Ich sage das nicht, weil ich denke, dass ich dich überzeugen kann. Ich sage das nicht, weil ich denke, dass du Vernunftgründen zugänglich bist. Wenn du Vernunftgründen zugänglich wärst, wärst du nicht hier. Ich sage das, weil ich dir klarmachen will, wo wir stehen.»

Sie öffnete den obersten Knopf an ihrer Bluse, wischte mit zwei Fingern Schweiß von ihrem Schlüsselbein und zündete sich die nächste Zigarette an.

62. IM TIEFSTEN GRUND

Sie kamen dort dann heran an den Eiterfluss, an den Blutfluss; für sie sollte es der Ort der Niederlage sein, wo das Herz von Xibalba ist. Nicht einmal waren sie es, die ihn durchschritten, nur auf dem Rücken der Blasrohre setzten sie über.

Popol Vuh

Die Ziege war verschwunden, das lose Ende der Kette lag am Ufer. Die Schatten der Felsformationen, die Carl noch in Erinnerung waren, schwankten im Licht. Mit hochgekrempelten Hosen zog der Syrer ihn hinter sich her bis in die Mitte des Schlammtümpels. Er fischte die Kette auf und band sie ihm mit einem Schloss um den Hals. «Das ist zu lang», sagte jemand, und der Syrer drückte Carls Nacken hinunter, bis das Gesicht fast das Wasser berührte, öffnete das Schloss und band die Kette erneut fest. Cockcroft, Helen, der Bassist und die Karbidlampe schauten vom Ufer aus zu.

Sie ermunterten ihn zu sprechen. Er schwieg.

Cockcroft ging in die Hocke, schaute Carl lange in die Augen und sagte: «Keine Idee ist so groß, dass es sich dafür zu sterben lohnt. Wir sind bisher offen zu Ihnen gewesen, und ich werde auch jetzt offen zu Ihnen sein. Existentielle Verzweiflung, das ist das vordringliche Ziel unserer Maßnahme. Sie in einen Zustand existentieller Verzweiflung zu versetzen. Und es gibt verschiedene Theorien dazu. Bis vor kurzem orientierte man sich noch an der nach Hanns Scharff benannten Annahme, zu tiefe Verzweiflung sei der Wahrheitsfindung nicht dienlich oder begünstige die Konfabulation. Diese Annahme hat sich aber nicht halten lassen, und wir nennen sie heute Käse. Andere Stimmen, und durchaus ernstzunehmende Stimmen, wiederum haben behauptet, es seien gerade die Verstockten, und hier insbesondere die Anal-Retentiven, die durch ein Übermaß an Verzweiflung noch verstockter und schließlich vollkommen versteinert würden. Aber auch dies ist widerlegt. Tiefe, existentielle Verzweiflung ist, und das ist der aktuelle Stand der Wissenschaft, der Königsweg zu …» Und so weiter und so weiter.

Carl hatte längst den Faden verloren. Es war alles Gewäsch, das hundertste Zeigen der Instrumente. Er tastete mit der Hand an der Kette hinunter, die tief im Schlamm mit einer Eisenstange ins Gestein getrieben war, und schloss die Augen.

«Bis morgen», sagte jemand. Helen. Und das war offenbar das Schlusswort gewesen. Denn mit Schritten und Stimmen zusammen schwankte das Licht nun davon, und Carl blieb allein zurück in der Finsternis. Im knietiefen Wasser herumrutschend suchte er nach einer stabilen Position. Die Länge der Kette zwischen Wasseroberfläche und Hals betrug keine fünfzehn Zentimeter. Sie war so kurz, dass er sich nicht auf den durchgestreckten Arm stützen konnte, und wenn er sich auf den Ellenbogen stützte, stand ihm das Wasser bis zum Kinn. Er versuchte ruhig zu bleiben. Er schrie.

Er stützte sich links ab, bis die Muskulatur verspannt war, dann stützte er sich rechts ab, bis die Muskulatur verspannt war. Dann wiegte er sich hin und her, bis die Kräfte schwanden. Die Kräfte schwanden rasch, und er wusste, dass er keine Stunde lang würde durchhalten können. Aber nach einer Stunde war er immer noch am Leben und wiegte sich hin und her.

Hatte er anfangs fünf oder zehn Minuten ausharren können, bevor er den Ellenbogen wechseln musste, wurden die Intervalle nun immer kürzer. Wie ein Mensch, der einen schweren Koffer durch die Stadt trägt und von einer in die andere Hand nimmt und ihn schließlich in keiner mehr halten kann. Er versuchte, die Schulter auf die Eisenstange zu legen, er versuchte, ein Kissen aus Schlamm zusammenzuschieben. Er spannte die Bauchmuskeln an, er spannte die Rückenmuskeln an, und als er merkte, worauf es hinauslief, versuchte er, sich zu ertränken. Rückwärts rollte er in die warme, glucksende Stille hinab. Der Schlamm. Der angehaltene Atem. Der Obsidian über den geschlossenen Lidern. Er sah die Wüste. Er sah eine gelbe Wolke. Er sah eine grüne Fahne. Ein Schluck übel riechender Brühe platzte in seinen Mund, und spuckend und würgend schoss er wieder hoch. Er zerrte an der Kette. Er zerrte an der Stange. Linke Seite, rechte Seite. Untertauchen. Wie bei jeder anstrengenden, eintönigen Tätigkeit konzentrierte er sich nicht darauf, was er machte, sondern wie er es machte. Er begann sich selbst Vorträge zu halten und wurde die Vorstellung nicht los, an einem Katheder stehend vor Hunderten Studenten ein Referat über das Überleben in Schlammlöchern zu halten, wenn das Schicksal (oder seine menschlichen Stellvertreter) einen dort unnachsichtig angepflockt hatte.