Folgendermaßen stütze man sich ab, sprach er, und folgendermaßen nicht. Die Gelenke A, B und C seien in diesen und jenen Winkeln anzuordnen, um bei geringstmöglicher Ermüdung maximale Ausdauerwerte zu erzielen. In logarithmisch verkürzten Intervallen habe sodann ein Wiegen und Schaukeln zu erfolgen, auf welches wiederum das modifizierte Stützen … und so weiter und so fort. Auch der letzte Student hatte sein Cahier geöffnet und schrieb mit. Man befand sich ein wenig im Orchideengarten der Physiologie, aber die Vorlesungen des Professors zum idealen Stützen waren so fesselnd, dass selbst Kollegen sie besuchten. Auch die Dauer der Vorlesung war ungewöhnlich. Sie dauerte Stunden und Tage, Wochen und Monate und viele Semester lang, und immer saß in der hintersten Reihe kaugummikauend eine blonde, großbrüstige Studentin mit eigenartiger Mimik.
In einem seiner klareren Momente fand Carl sich ab mit seinem Tod, und erst dieser Gedanke brachte ihn darauf, dass er nicht allein war in der Finsternis. Sie wussten — mussten wissen — , dass ein Mensch in seiner Lage in kürzester Zeit ertrinken und sein Wissen mit sich nehmen würde. Also war da noch jemand, der ihn beobachtete, belauschte und im Dunkeln seine schützende Hand über ihn hielt. Einer von den vieren. Carl hatte ihre Stimmen und Schritte leiser werden hören, er hatte das Licht verlöschen sehen, aber er hatte nicht darauf geachtet, ob es wirklich die Schritte vierer Personen waren, die davongegangen waren.
Er verhielt sich ganz still, und auch die Gegenseite hielt den Atem an. Doch er war sich ganz sicher. Hinter einem Grabstein aus Nacht ein blondes Lockenbündel.
Er hatte schon hin und wieder vor sich hin geredet, jetzt hob er die Stimme. Er sprach mit seinen Angehörigen, beklagte sein trauriges Schicksal, nahm Abschied von Vater und Mutter und versank mit einem theatralischen Schluchzer. Dramatisches Blubbern unter Wasser. Er schlug mit Armen und Beinen, hörte auf, mit Armen und Beinen zu schlagen, und hob lautlos den Kopf. Und atmete. Es kostete ihn ungeheuer viel Kraft, nicht zu stöhnen, nicht zu schnaufen und sich nicht zu bewegen. Sein Zittern versetzte das Wasser in leise Bewegung. Er hörte das Plätschern und das Echo des Plätscherns und das Echo des Echos. Und sonst nichts. Niemand erschien. Er wiederholte das Experiment noch einige Male und vergaß, dass es ein Experiment war. Er sprach jetzt wirklich mit seinem Vater, und sein Vater legte ihm die Hand in den Nacken und führte ihn einen langen, gekachelten Gang hinunter, in dem es nach Chlor roch. Ein weißes Frotteehandtuch lag zusammengefaltet auf der Heizung. Zwei Mädchen in blauen Badeanzügen standen am Geländer des Sprungturms und sahen ihn mit größtmöglicher Gleichgültigkeit an. Die eine ging in die achte Klasse und war die Liebe seines Lebens. Er spuckte Wasser in die Gegend, kam kurz zur Besinnung und schrie und prustete, er wisse, was sie wissen wollten. Er habe es immer gewusst, und die Kapseln aus dem Kugelschreiber seien ihm nicht gestohlen worden, er trage sie in einem hohlen Zahn bei sich, sie müssten nicht warten bis morgen.
«Bis morgen!», leierte das Echo.
63. RÄUMLICHE VORSTELLUNGEN
Und verrichte das Gebet an den beiden Tagesenden und in den Stunden der Nacht, die dem Tage näher sind. Wahrlich, die guten Taten tilgen die bösen. Das ist eine Ermahnung für die Nachdenklichen.
Am nächsten Tag war er noch immer am Leben. Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, er wusste nicht, ob er sich darüber freuen solle, aber er spürte keine Erleichterung, als er die Schritte mehrerer Personen hörte. Außer Durst und Schmerz spürte er gar nichts mehr. Ein Stück Kot trieb irgendwo neben ihm im Wasser. Sein Gesicht war mit Schlamm besprenkelt und aufgequollen. Wenn es stimmte, was eine hinter einem Licht verborgene Stimme behauptete, dass sie ihn nur eine Nacht alleingelassen hatten, dann hatte sein Zeitgefühl sich um das Fünf- oder Sechsfache verlangsamt.
Unter den Lichtern sah er drei Paar Schuhe. Braune Schuhe, braune Schuhe, Frauenschuhe. Niemand mit aufgekrempelten Hosen.
«Carthage hat leider den Schlüssel mitgenommen. Aber dafür haben wir das hier.»
Cockcroft hockte sich ans Ufer. Helens Hand hielt einen Bolzenschneider. Ein riesiges, friedliches Schaf geisterte durch den Raum und knabberte Carls Rücken an.
«Ksch», sagte er.
«Und ist Ihnen jetzt eingefallen, was Sie sagen wollten? Nein? Wir wickeln nämlich gerade den Posten hier ab, und es könnte jetzt einige Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis wieder ein menschliches Wesen in diese Höhle hinabsteigt. Also, frei von der Leber weg: Wollen Sie uns noch etwas mit auf den Weg geben? Nichts? Finden Sie das komisch? Das ist bedauerlich. Sehr bedauerlich.»
Cockcroft redete, Helen redete, und dann redete wieder Cockcroft. Aber weitere Fragen zu beantworten fühlte Carl sich nur unter Wasser imstande. Einmal sagten sie, sie würden ihn nun allein lassen. Dann wieder sagten sie, sie würden ihm noch eine Chance geben. Helen legte den Bolzenschneider neben sich auf den Felsen. Er trank ein wenig schlammige Brühe. Unbeweglich saßen die Schemen da und beobachteten ihn.
«Überleg’s dir.» Helen beugte sich vor und spritzte mit dem Zeigefinger Wasser in seine Richtung.
«Ich sterbe», sagte er.
«Du stirbst nicht. Kennst du die Sache mit der Ratte, die man in ein Fass wirft? So was kann sich tagelang hinziehen.»
«Scheiß auf die Ratte. Scheiße. Scheißratte.» Er versuchte, seinerseits mit Wasser zu spritzen, konnte aber die drei Meter, die ihn von Helen trennten, nicht überbrücken.
«Du solltest wenigstens so viel Klugheit besitzen, eine letzte Unterhaltung zu einer Bemerkung zu nutzen, die nicht absolut gegenstandslos ist.»
Er dachte nach und sagte: «Ich finde dich zum Kotzen.»
Die Schemen erhoben sich. Die Lichtstrahlen der geschwenkten Lampen schoben Schattenfelsen durch den Raum. Schritte. Ziegen. Finsternis. Er wartete.
Er hatte sich gut eingeprägt, wo der Bolzenschneider liegen geblieben war. Vielleicht dreieinhalb oder vier Meter von seinem ausgestreckten Arm entfernt, auf einem flachen Felsen am Ufer.
Um sich die Hose auszuziehen, musste er immer wieder untertauchen. Mit beiden Händen schob er sie sich über die Hüfte. Seine linke Hand, an der ihn das Ouz gebissen hatte, schmerzte deutlich stärker als die rechte, durch die Bassir ihm den Brieföffner gestoßen hatte. Schlamm verklebte seine Augen. Er hoffte, dass es Schlamm war.
Er riss sich den Pullover über den Kopf und knotete einen Ärmel mit einem Hosenbein zusammen. Es war ein mühsames Gezerre, und es mochte damit zusammenhängen, dass sein Geist bereits auf Notstrom lief, oder damit, dass das räumliche Vorstellungsvermögen im Dunkeln noch einmal zusätzlich gelitten hatte, aber er brauchte eine Ewigkeit, um zu begreifen, dass der Pullover auf der Kette festhing und für seine Zwecke unbrauchbar war. Er knotete die Hose wieder los und zerrte den Pullover hin und her. Er versuchte, ihn der Länge nach zu zerreißen, aber mit seinen Fingern konnte er ihn nicht festhalten. Nebelschwaden tanzten vor seinen Augen. Er schrie, und irgendeine synästhetische Fehlverschaltung verwandelte seine Schreie in Farben. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Also ließ er den Pullover Pullover sein und versuchte es allein mit der Hose.