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Er knotete ein Hosenbein zu, füllte ein paar Handvoll Schlamm hinein und prüfte das Gewicht. Dann maß er die Länge. Er rechnete: etwa dreißig Zentimeter Kette plus eine halbe Schulterbreite plus ein ausgestreckter Arm plus die Länge der Hose, die vielleicht einen Meter fünfzig betrug. Das waren maximal drei Meter. Das würde nicht reichen.

Er schwang die Hose am einen Bein wie ein Lasso nach vorn und hörte das andere Ende im Wasser aufklatschen. Beim zweiten und dritten Versuch dasselbe. Er kam nicht einmal bis ans Ufer. Vielleicht lag es an der Wurftechnik? Auf den linken Ellenbogen gestützt, in halb liegender Position, hing die Hose beim Ausholen irgendwo hinter seiner rechten Schulter im Wasser und kam schief und spritzend heraus. Einmal schleuderte er sich selbst das Gewicht an den Kopf. Jeder Wurf kostete Kraft.

Vor dem vierten Versuch drapierte er sich den Stoff sorgfältig in zwei Schlingen über die rechte Schulter und versuchte dann, das Gewicht im zugeknoteten Hosenbein nicht zu werfen, sondern zu stoßen; was riskant war. Denn er musste mit ein und derselben versehrten Hand nicht nur das Gewicht von sich fortstoßen, sondern auch das zweite, glitschige Hosenbein festhalten. Entglitt ihm das Ende, war das sein sicherer Tod.

Er konzentrierte sich lange und drückte den Arm ins Dunkel. Sofort gab es ein Aufschlaggeräusch am Ufer, nasses Klatschen auf Fels. Er holte das Lasso ein und stieß es vier- oder fünfmal in leicht unterschiedliche Richtungen wieder davon. Immer traf er Felsen am Ufer. Aber mehr auch nicht. Er legte sich flacher ins Wasser, straffte die Kette und glaubte, sich allein durch systematisches Vorgehen aus der Misere befreien zu können. Die Serie der Aufschlaggeräusche am Ufer setzte sich in seinem Kopf zu einer rettenden Landkarte zusammen, die er nur Planquadrat für Planquadrat sorgfältig beackern musste, um irgendwann mit Sicherheit den Bolzenschneider zu treffen. Diese Momente wurden abgelöst von der Ahnung, dass der Bolzenschneider weit außerhalb seiner Reichweite lag. Dann wieder glaubte er, im Dunkeln die Orientierung verloren zu haben. Er drehte sich wie ein Minutenzeiger im Kreis und warf die Hose in alle Richtungen aus, nur um festzustellen, dass er in drei Vierteln der Fälle nicht bis zum Ufer kam.

Die Richtung, die er ursprünglich für die richtige gehalten hatte, blieb dadurch immerhin vage erkennbar. Das Ufer, auf dem Helen gestanden, zu ihm gesprochen und den Bolzenschneider abgelegt hatte, war das am wenigsten weit entfernte gewesen.

Er versuchte es weiter, aber das Geräusch eines sandgefüllten Hosenbeins, das auf ein stählernes Werkzeug fiel, blieb aus. Von Zeit zu Zeit rüttelte er an seiner Halskette, wie um in einem magischen Akt einen metallenen Klang heraufzubeschwören. Er redete vor sich hin, und auf einmal hob sich der Nebel, und er sah dunkle Bäume um den Tümpel herum. Die Bäume streckten ihre blattlosen Äste in einen grauen Himmel, Schneeflocken rieselten herab. Der Tümpel vereiste. In Gleitschuhen lief er darüber hinweg. Seine Mutter ermahnte ihn zur Vorsicht, eine junge Frau mit braunen Augen. Und dann kam der Hund. Wie ein großer, wollener Handschuh sprang das Tier an ihm hoch. Der Christbaum leuchtete auf und brannte und fiel um. Ein Arzt untersuchte ihn mit einem Holzstäbchen im Mund. Das Holzstäbchen durfte man hinterher mitnehmen. In einem Glas standen Bonbons als Dankeschön, der Lehrer verlangte eine Primzahlenzerlegung, und am Rande des Dschungels lebten sprechende Affen, die Menschen jagten, ausstopften und im Museum ausstellten. Er erinnerte sich an das Bild der Freiheitsstatue am Strand, darüber am Himmel ein zuckender Fussel auf der Kameralinse, schlangenhafte Grüße aus dem Reich der Toten. 48 Stunden ohne Schlaf.

Carl kam zu sich, weil er Wasser trank. Er hustete, spuckte Schleim und begann ein eigentümliches Tun. Sein Ellenbogen fuhr mit Schwung zurück, die Hand zur Faust geballt, dann mit gespreizten Fingern nach vorn, am Ende eine Schaufelbewegung nach oben. Immer und immer wieder. Die Zwei, die Drei … und die Siebzehn.

Er sah noch einmal die Amsel, die sich in sein nächtliches Zimmer verirrt hatte, und ein Mann mit einer goldenen Armbanduhr öffnete die Fenster und ließ sie hinaus. Der Geruch eines verbrannten Kuchens. Ein junger Mann, der sich eine Zigarette verkehrt herum in den Mund steckte und ins Gespräch vertieft ihren Filter anzündete. Der Großvater, der das Auto wusch, in verblichenen Farben für immer erstarrt, nur das Wasser aus dem Schlauch sprudelte unaufhörlich und bis in alle Ewigkeit silbern auf die Motorhaube.

Er sammelte mechanisch die klatschnasse Hose ein. Er fragte sich, was sie mit Hakim von den Bergen gemacht hatten. Vor Kälte zitternd versuchte er, den Pullover von der Eisenkette zurück über seinen Oberkörper zu streifen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, in den nassen Klumpen hineinzukriechen und ihn sich über den Kopf zu zerren.

Die Geräusche verstummten für einen Moment, und ein Gedanke torkelte klumpfüßig auf ihn zu: Wenn man sich dieses Stück Stoff über den Kopf stülpen konnte — konnte man es dann nicht auch weiter über den Körper hinab und bis zu den Füßen herabziehen? Er wagte die Frage im Dunkeln nicht zu beantworten. Sein räumliches Denkvermögen hatte ausgesetzt.

Er sah sich selbst wie eine Comicfigur am Hals mit einem riesigen Gewicht verbunden, das die Form und Größe der Erdkugel hatte. Zu dieser Seite hin ging es nicht. Aber zur anderen? Durch wie viele der zwei bis vier Öffnungen, aus denen ein Pullover seiner Meinung nach bestand, musste der taube, aufgequollene Fleischklumpen, der er selbst war, hindurch, bis der Stoff zur Verfügung stand? Er wusste es nicht. Er konnte es nur ausprobieren.

Unter Wasser liegend schob er einen Arm am Hals entlang hoch. Das ging ganz leicht. Aber schon beim zweiten Arm gab es Probleme. Kurz vor dem Ellenbogen blieb er in der Halsöffnung stecken. So unzerreißbar der Pullover war, so unelastisch war er auch. Carl versuchte, sich wieder freizumachen, aber nun konnte er weder vor noch zurück. In seiner Zwangsjacke sank er in den Schlamm, zappelnd wie ein Fisch an Land. Er schnappte nach Luft. Er tauchte. Und auf einmal kam der andere Ellenbogen an seinem Gesicht vorbeigeschossen. Prustend wälzte er sich hoch. Beide Arme hingen ihm zusammengebunden über dem Kopf, und die Unterarme führten ein verzweifeltes Ballett auf, als versuche er, pantomimisch einen Hasen darzustellen. Er tobte. Er kippte um. Dann ruckte der Pullover auf seine Brust und nahm ihm den Atem. In einem letzten Kraftakt zerrte er sich das Kleidungsstück noch unter Wasser auf die Hüfte hinunter. Und der Rest war einfach. Mit dem Pullover in Händen blieb er eine Minute liegen und versuchte, sich zu entspannen.

Dann suchte er nach seiner Hose, um sie an den Pullover zu knoten, aber die Hose war verschwunden. Drei-, viermal kroch Carl auf den Ellenbogen um die Eisenstange herum, ohne die Hose zu finden, und als er sie endlich gefunden hatte, war das Gewicht darin verschwunden, und der Knoten hatte sich gelöst.

Er machte einen neuen Knoten und stellte fest, wie kurz sein Wurfgerät nun geworden war. Er löste den Knoten, machte ihn weiter am Rand noch einmal, aber es war immer noch zu kurz. Stöhnend tastete er von einem Ende zum anderen, und es wurde immer rätselhafter. Von der Hose schien etwas zu fehlen, und in der Mitte hing schlaff ein großer Lappen. Allein das Herumwälzen auf der Hose konnte sie doch nicht zerrissen haben?

Auf der Suche nach übersehenen Knoten, Knäueln oder Hosenbeinen ließ er den Stoff Stück für Stück durch seine Hände gleiten. Aber er konnte nichts weiter ertasten. Er glaubte, den Verstand verloren zu haben. Er trommelte auf seine blinden Augen. Und erst, als er sich den Stoff aufs Gesicht drückte und mit der Zunge darüberfuhr, spürte er, was er mit den tauben Händen schon lange nicht mehr spüren konnte, dass es kein Hosenstoff war, sondern etwas Gestricktes. Der Pullover. Er hatte die ganze Zeit seinen Pullover untersucht.