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«Jetzt mal der Reihe nach», sagte er halblaut zu sich selbst, und weil der Klang seiner eigenen Stimme einen beruhigenden Eindruck auf ihn machte, den Eindruck einer übergeordneten Vernunft, die deutlich weniger angegriffen wirkte als seine eigene, setzte er sein Selbstgespräch noch lauter fort.

«Legen wir erst mal den Pullover hierhin», sagte er und legte sich den Pullover auf die Schulter. Dann tastete er die Umgebung ab. Er konnte die Hose aber noch immer nicht finden und sagte: «Kein Problem. Gar kein Problem. Wenn sie hier nicht ist, dann ist sie hier. Oder hier. Oder hier.»

Er legte sich so flach wie möglich auf den Bauch, spannte die Kette und grapschte mit beiden Händen vor sich im Schlamm herum. Er tauchte unter und machte Schwimmbewegungen.

«Jetzt nicht in Panik geraten», sagte er. Er streckte ein Bein nach vorn und kroch, den Fuß wie einen Haken herumzirkelnd, einmal ganz um die Eisenstange. Tatsächlich verfing sich ein langes Stück Stoff an seinem Knöchel, und sofort vergewisserte er sich, dass der Pullover noch auf seiner Schulter lag. Er lag noch da.

«Bestens», sagte er, «alles bestens.» Er knotete den Pullover an ein Hosenbein.

Dann maß er die Länge des Wurfgeräts und war enttäuscht. Es war kaum anderthalbmal seine Spannweite. Das Zusammenknoten verbrauchte viel zu viel Stoff. Aber er wagte auch nicht, den Knoten noch viel sparsamer anzulegen. Wenn die Stücke sich voneinander lösten und eines davonflog, war er verloren.

Bevor er den ersten Wurfversuch unternahm, legte er eine kurze, feierliche Pause ein. Dann Konzentration und die bewährte Kugelstoßtechnik: Mit dem gewohnt schlappen Geräusch klatschte der nasse Stoff auf die Felsen.

Aber er hatte die Orientierung nun völlig verloren. Den zweiten Wurfversuch setzte er neunzig Grad weiter rechts an: dasselbe nasse Klatschen. Der dritte Wurfversuch war ein Versehen, er hatte vergessen, sich weiterzudrehen. Wieder gab es ein nasses Klatschen … und diesmal vermischt mit einem leicht metallischen Klingeln. Starr vor Schreck hielt er den Wurfarm sekundenlang ins Dunkel ausgestreckt, bevor er wagte, das Lasso langsam einzuholen. Langsam, noch langsamer. Er hörte ein Scharren von Metall auf Fels. Einen Zentimeter, zwei, fünf. Dann verlor das Schleifgeräusch die metallische Komponente.

Carl füllte ein wenig mehr Schlamm als Gewicht in die Hose und warf erneut. Diesmal verfehlte er den Bolzenschneider. Aber das war kein Problem. Seine Schmerzen waren verstummt. Sonderbare, bis zum letzten Moment vom Körper zurückgehaltene Botenstoffe wurden in seinem Gehirn ausgeschüttet.

Mit neuer Kraft und Zuversicht stieß Carl das Gewicht ins Dunkel und spürte im letzten Moment, wie der Ärmel des Pullovers, den er hätte festhalten sollen, seinen klammen Fingern entglitt. Ein Augenblick der Stille. Dann hörte er am fernen Ufer einen Schwall nasser Textilien niederrauschen, begleitet von einem letzten höhnischen Klingeln.

Diesmal brauchte Carl keine zehn Sekunden, um sich zu vergewissern, dass Hose und Pullover vollkommen außerhalb seiner Reichweite lagen, weder mit Händen noch mit Füßen zu angeln, in unendlicher, dunkler Felsenferne, weiter entfernt als das Ufer, weiter entfernt als sein eigenes Leben.

Er spürte, dass er bis zu diesem Moment geglaubt hatte, unsterblich zu sein. Er schlang sich die Kette um den Hals. Er drückte das Gesicht in den Schlamm. Er schlug die Stirn gegen die Eisenstange. Mit einem Schrei tauchte er wieder auf. Er schrie den Namen, der ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Jetzt hallte er von den Wänden wider ins Nichts.

64. AÉROPORT DE LA LIBERTÉ

Die blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit. Geradeso wie sie wenig in das Auge hineinschicken, so bleiben sie im Gehirn mit ihren Nahrungssäften, geben ihrem Gehirn die Gescheitheit. Die Braunhaarigen und die Schwarzhaarigen und die Schwarzäugigen, die treiben das, was die Blonden ins Gehirn treiben, in die Augen und Haare hinein.

Rudolf Steiner

Man hatte ihr ein Ticket für elf Uhr besorgt. Die anderen waren schon am Abend zuvor abgereist. Helen packte ihre Sachen, nahm ein Taxi und erreichte den Flughafen im Norden Targats gegen acht. Dort erfuhr sie, dass der Flug wegen technischer Schwierigkeiten ausfalle. Zwei nicht ausgebuchte Maschinen der Air France, die wenig später nach Spanien und Südfrankreich abgingen, musste sie auslassen, da sie mit der Waffe im Gepäck auf ihre amerikanische Fluglinie angewiesen war.

Nach einigem Hin und Her (und dem Protest anderer Flugreisender, die weniger Glück hatten) wurde sie schließlich auf die Nachtmaschine umgebucht. Jetzt hatte sie noch zwölf Stunden Zeit. Sie deponierte ihr Gepäck im Schließfach und fand im Obergeschoss des Flughafengebäudes ein schönes, auf exotische Art europäisch wirkendes Café. Sie las den Herald Tribune und eine französischsprachige Zeitung, die jemand auf ihrem Tisch vergessen hatte. Es beruhigte sie, beim Durchblättern beider Zeitungen auf nichts Vertrautes zu stoßen.

Die Tasse, in der ihr Kaffee serviert wurde, war aus weißem Porzellan und hatte ein am Rand aufgedrucktes Muster aus kleinen blauen Sicheln, die sich mit Sternen abwechselten. Es war das gleiche Fabrikat, das im Küchenschrank des Bungalows 581d gestanden hatte, das gleiche Fabrikat, das sie einige Tage lang jeden Morgen auf den kleinen Frühstückstisch gestellt hatte. Zwei Gedecke. Sie blickte eine Weile ins Leere und fragte sich, wie ihr Leben in dreißig oder vierzig Jahren wohl aussähe. Ihr Leben, ihr Glück und möglicherweise ihre Erinnerung an die Jetztzeit, ihre Erinnerung an das kleine, vormoderne, halbzivilisierte, gewalttätige, schmutzige Land im Norden Afrikas, von dem sie hoffte, es in wenigen Stunden für immer verlassen zu haben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der namenlose Mann noch immer am Leben war, war nahe null. Schon bei ihrem letzten Besuch hatte er keinen guten Eindruck gemacht. Noch einmal sechsunddreißig Stunden waren seitdem vergangen, und man musste kein Pessimist sein, um vorherzusagen, dass sich die Wasseroberfläche über ihm für immer geschlossen hatte.

Der Flughafenlautsprecher rief Mr. und Mrs. Wells zum Abfertigungsschalter der Air France. Helen schaute durchs Panoramafenster und entdeckte im Gewimmel der weißen, blauen und sandfarbenen arabischen Häuser rings um den Flughafen ein Neonschild, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Sie sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. Dann ging sie zu ihrem Gepäckschließfach und schaute sich über die Schulter nach Passanten um. Unauffällig nahm sie zwei schwere Gegenstände aus ihrer Reisetasche und schob sie im Innern des Schließfachs in eine Plastiktüte. Mit der Plastiktüte verließ sie das Flughafengebäude, überquerte die Straße und blieb vor dem Haus mit dem Neonschild stehen. Es war ein Autoverleih.

Der günstigste Mietwagen war ein sandfarbener R4 mit Revolverschaltung. Helen würgte ihn einige Male ab, bevor sie aus dem dichten Verkehr heraus auf die Piste nach Tindirma kam. Sie trat das Gaspedal voll durch. Der Anblick der beiden sich küssenden Ziegelkamele bedrückte sie wie der Blick in eine Kiste mit staubigen Jugenderinnerungen.

Was genau zu tun sie beabsichtigte — falls sie überhaupt etwas beabsichtigte — , wusste sie selbst noch nicht. Der Auftrag war abgeschlossen. Man hatte nichts Entscheidendes herausgefunden, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit sichergestellt, dass eine Übergabe der Pläne nicht erfolgt war. Nach Schilderung der vielfältigen Komplikationen hatte die Zentrale in der Nacht den Rückzug angeordnet, und man hatte das Problem, wie es nun hieß, in den Bergen sich selbst überlassen. Freilassen konnte man den Mann nicht.