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8. AUF DER GANGWAY

If you look good and dress well, you don’t need a purpose in life.

Robert Pante

Für eine Passagierin, die in Targat keinen Landgang unternehmen, sondern von Bord gehen wollte, hatte Helen erstaunlich wenig Gepäck dabei. Einen kleinen Kalbslederkoffer und einen noch etwas kleineren Hartschalenkoffer aus schwarzem Plastik. Der Chefsteward verabschiedete die Fahrgäste. Bei der ganz in Weiß gekleideten Frau mit den platinblonden Haaren stutzte er.

«Auf Wiedersehen, Mrs. …»

«Auf Wiedersehen, Mr. Kinsella.»

Auf der Gangway stauten sich die Passagiere. Zwei Seeleute an Land versuchten, die Menschenmenge in grauen Dschellabahs fernzuhalten, ein Gewimmel aus Lastträgern, Hotelvermittlern und Taschendieben. Mit Waren behängte Händler und Krüppel riefen durcheinander, ein Kinderchor sang: «Donnez-moi un stylo, donnez-moi un stylo!»

Es waren die ersten französischen Worte, die Helen seit dem College gehört hatte. Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar, überlegte, ob es sinnvoll sei, ihre Taschen nach einem Schreibgerät zu durchsuchen, und spürte im selben Moment, wie jemand nach ihrem Koffer griff. Ein kleiner Junge hatte sich die Hälfte der Gangway hinaufgestürzt. Mit verbissenem Gesichtsausdruck riss er an dem Gepäckstück. Wollte er es tragen? Es stehlen? Helen umklammerte den Griff. Der Junge — verfilztes, schwarzes Haar, schmale Schultern — kämpfte einen stummen und verzweifelten Kampf, dann öffnete sich der Verschluss des Koffers, und sein Inhalt stürzte in buntem Schwung ins Meer, Lippenstifte und Salben und Fläschchen und Wattepads, gefolgt von dem anmutig mit den Flügeln schlagenden Koffer selbst. Helen stolperte einen Schritt zurück.

Sofort kam Mr. Kinsella die Stufen hinuntergerannt, und von unten boxte sich einer der Seeleute durch die Passagiere hinauf. Der eingekesselte Junge ließ sich unter den Halteseilen hindurchgleiten und plumpste in den schmalen Streifen Meer zwischen Schiff und Pier. Ein Betrunkener auf dem Oberdeck klatschte Beifall, der Junge hundepaddelte mühsam davon.

«Willkommen in Afrika», sagte Mr. Kinsella. Er half Helen, den anderen Koffer zu den Taxis zu tragen, und sah ihr lange hinterher.

Der Taxifahrer hatte nur einen linken Arm und schaltete die Gänge, indem er den Oberkörper herumdrehte, während er mit den Knien das Steuer festhielt. «Mine», sagte er und wedelte mit der kahlen rechten Schulter. Es war sein einziger Beitrag zur Konversation. Über schmale, abenteuerliche Serpentinen ging es das Küstengebirge hinauf.

Das Sheraton war nicht das einzige Gebäude auf dem Höhenzug, aber das einzige, das mit seinen zwanzig Stockwerken weit über den Dschungel hinauswuchs.

Es war in den fünfziger Jahren errichtet worden, und der Architekt hatte sich nicht entscheiden können zwischen Funktionalität und einer nachträglich an die Wände geklatschten Folklore aus bunten Mosaiken, Spitzbögen und Mukarnas; eine eklektizistische Katastrophe. Es lag sicher nicht an dieser Stillosigkeit allein, dass sich das Hotel so großer Beliebtheit erfreute, aber sie hatte ihren Anteil daran. Selbst in der Nebensaison musste man lange im Voraus buchen.

Meine Eltern hatten ein Zwei-Zimmer-Apartment im neunten Stock gemietet, und wenn sie mich, wie so oft, hinausschickten, um hinter verschlossenen Türen geheimnisvolle Dinge zu treiben, erkundete ich allein das weitläufige Hotelgelände. Ich ließ mir vom Poolwärter die Verteilung der Handtücher zeigen, betrachtete die immer wieder verwirrende Droste-Cacao-Werbung vor dem Restaurant und half einer hübschen jungen Frau an der Bar, die Strohhalme zu sortieren. Mit meinen ersten französischen Worten («numéro neuf cent dix-huit») bestellte ich unbegrenzte Mengen Zitroneneis und Coca-Cola und fuhr mit dem Fahrstuhl vom Keller zur Dachterrasse und zurück. Die Hotelangestellten liebten mich. Ich trug ein weißes T-Shirt mit den olympischen Ringen drauf und eine kurze Lederhose mit roten Herzchen als Taschen.

Was das für geheimnisvolle Dinge waren, die meine Eltern nötigten, Tag für Tag die Türen vor mir zu schließen, wusste ich nicht. Ich war sieben Jahre alt. Ich wusste nur, dass es mit Sex nichts zu tun hatte. Sexuelle Handlungen waren tabu, denn alle Lebenskraft lag im Samen, und der Samen hatte im Körper zu verbleiben. So lehrte es der große Sri Chinmoy. Heute denke ich, dass die verschlossenen Türen mit den kleinen Plastiktütchen zusammenhingen, die mir bei Spaziergängen durch Targat mit einer Sicherheitsnadel hinter den Quersteg der Hosenträger meiner Lederhose geheftet wurden. Aber ich war weder sehr neugierig zu erfahren, was es damit auf sich hatte, noch unglücklich über mein Schicksal. Am liebsten stand ich auf der Dachterrasse.

Von der Dachterrasse des Sheraton hat man einen zur Seeseite hin schwindelerregenden Blick über die Bucht von Targat und den kleinen Hafen. Zahlreiche zum Hotel gehörige weiße Bungalows liegen über die Flanke des Berges ausgeschüttet wie Würfelzucker. Rostige Lastkähne, sandfarbene Häuser und lehmige Gassen drängen sich im Halbkreis um das Meer, und im Hafen dümpelt alle zwei Wochen ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff, ein riesiger, schwimmender Tempel, der für die einen Wohlstand und Vergnügen bedeutet und für die anderen nur Wohlstand. Nach Osten hingegen sieht man knapp über den rückwärtigen Berggrat hinweg bis weit ins Landesinnere, über einen Dschungel aus grünem Blumenkohl, Plantagen und Slums hinweg in die endlose Wüste hinaus, wo an klaren Tagen am Horizont die Felsnadel von Tindirma zittert.

Wenn ich von dort über fünf Kugeln Zitroneneis hinweg den gewölbten Erdball sah, war ich vollkommen glücklich. Ich war Rommel auf der Wüstenseite und rettete meine Männer gegen den ausdrücklichen Befehl des Führers, ich war Jacob Roggeveen am Meer und entdeckte unbekannte Osterinseln, und wenn ich zwischendurch einmal ich selber war, versuchte ich, auf die Köpfe der blonden, braunen und schwarzen Ameisen zu spucken, die fünfzig Meter unter mir aus dem Gebäude strömten. Auf dem Weg dorthin trieb der Wind meine Spucke davon, meistens traf ich nur eine blaue Markise. Die Frage, ob ich am letzten Augusttag des Jahres 1972 auch dort oben gestanden und die amerikanische Touristin und den einarmigen Taxifahrer bemerkt habe oder ob hier eine Fotografie meine Erinnerung überlagert, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten. Sicher ist allerdings: Nachdem Helen Gliese sich den Schlüssel für ihren Bungalow an der Hotelrezeption abgeholt hatte, verließ sie das Gebäude sofort wieder in Begleitung eines jungen Pagen, der ihren kleinen Kalbslederkoffer trug. Der Page wiegte den Kopf beim Gehen hin und her, als ob er leise vor sich hin sänge, und versuchte beim Überqueren der Straße mehrmals wie geistesabwesend die Hand der platinblonden Frau zu ergreifen.

Helens Bungalow lag auf halbem Weg zum Meer. Er hatte zwei Zimmer und eine Küche, eine Terrasse mit Meerblick und ein Mosaik aus gelben und blauen Arabesken über der Tür, in das mit roten Steinchen die Nummer 581d eingelassen war. Eine Fotografie dieser Tür, wie sie damals in vielen Zeitschriften zu finden war, hängt über meinem Schreibtisch.

9. SPASSKI UND MOLESKINE

Mit derlei unwichtigem Hoftratsch, der ebenso nichtssagend war wie die Begebenheit, die wir vorhin erzählt haben, müsste man den Bericht über die vier nächsten Jahre ausfüllen.

Stendhal