Was also wollte sie noch? Sie parkte den Wagen an der bekannten Stelle, stieg über den Grat und sah auf der gegenüberliegenden Seite des Berges den Stolleneingang, das Windrad und die Fässer. Die Hütte sah sie nicht. Nur einen tiefschwarzen Fleck. Während sie durch das Tal ging, wehte ihr schwacher Brandgeruch entgegen.
Sie nahm die Waffe aus der Tüte, schwenkte die Trommel heraus, hielt ihren Finger in den Rahmen, schaute durch den Lauf, schob die Trommel zurück, steckte sich Waffe und Taschenlampe in den Gürtel und erstieg vorsichtig das kleine Felsplateau.
Die verkohlten Balken der Hütte waren zu einem Haufen zusammengefallen. In der Mitte rauchte es schwach. Helen sah sich um. Die einzige Erklärung, die ihr einfiel, war, dass Cockcroft und Carthage versucht hatten, Spuren zu beseitigen. Sie waren die Letzten vor Ort gewesen. Aber sehr wahrscheinlich erschien ihr das nicht. Sie spannte den Hahn.
Es war ein schwüler, wolkenverhangener Spätnachmittag, und ihr graute ein wenig vor dem Abstieg in der Dämmerung — wegen der Dämmerung. Zwar war es im Grunde gleichgültig, zu welcher Tageszeit man in stockdunkle Höhlen hinabstieg, ob am Tag, in der Dämmerung oder bei Nacht; aber die Vorstellung, dass Finsternis sich über das Land senkte, während sie im Dunkeln unter der Erde umherging, und dass sie nicht ins Licht zurückkommen würde, sondern in sternenlose Nacht, eine Nacht wie unter tiefster Erde, beunruhigte sie auf eine Weise, dass auch ein sehr viel einfältigerer Mensch als Helen sich zu fragen begonnen hätte, ob hier nicht Scham- und Schuldgefühle in harmlosen Landschaften und Lichtverhältnissen Verstecken spielten.
«Unsinn», sagte sie zu sich selbst und folgte dem künstlichen Lichtstrahl in den Stollen hinab. Ab und zu schwenkte sie die Seitenwände ab, um die Markierungen der rußigen Handflächen zu studieren, und Schritt für Schritt legte sich ihre Aufregung. Schon vor dem Eintritt in die unterste Höhle rief sie Carls Namen. Keine Antwort. Nur Dunkel und Stille und der brackige Geruch des Tümpels.
Fast das Erste, was sich im Scheinwerferkegel verfing, war ein schlammiges, verknotetes Kleiderbündel, das auf dem Bolzenschneider auf den Felsen lag, umgeben von einem Kreis von Feuchtigkeit. Helen wusste sofort, was hier versucht worden — und Versuch geblieben — war.
Fast eine Minute lang stand sie am Ufer vor dem Tümpel und hielt den Atem an. Noch einmal rief sie seinen Namen. Sie hörte das leiernde Echo ihrer Stimme, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Aber es war nicht der Gedanke daran, was sich unter der spiegelglatten Wasseroberfläche verbergen mochte, der ihr die Härchen auf dem Rücken aufstellte, es war der Klang ihrer eigenen Stimme. Genauer gesagt, die Erinnerung an den Abscheu vor ihrer eigenen Stimme, der sich seit ihrer Jugend sonderbar in ihr erhalten hatte. Die Fremdheit, die Verunsicherung und der kleine Gedanke: Wie viel Zeit vergangen ist. Wie jung ich einmal war. Und wie sinnlos das alles.
Warum das ausgerechnet in diesem Moment einen so starken Eindruck auf sie machte, wusste sie nicht. Und es ging auch rasch vorüber.
Lange Minuten saß sie im Auto, ohne den Zündschlüssel herumzudrehen. Sie rauchte zwei Zigaretten und betrachtete eine Fliege auf der Windschutzscheibe. Dann startete sie den Motor und schaltete das Fernlicht ein.
65. DAS WEITERE GESCHEHEN
Ach, die Unentzifferbarkeit des Vorhersehbaren!
Wenn man wollte, könnte man die Chronik der unerfreulichen Ereignisse an dieser Stelle guten Gewissens abbrechen. Viel mehr als das Berichtete hat sich nicht ereignet.
Im Sheraton wurde ein Schlüssel vermisst. Im Leeren Viertel kam ein Mann zu Reichtum, der eine günstig erworbene Espressomaschine zum Zehnfachen ihres Preises weiterverkaufen konnte. Eine junge hellhäutige Frau (normannischer Typus) und ihr dreijähriges Kind wurden mit aufgeschlitzten Kehlen in den Bergen aufgefunden. Im Rachen des Jungen entdeckte man ein Amulett in Form eines kleinen Teufelchens. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt.
Weder Spasski noch Moleskine erhielten den Nobelpreis. Ihr Ruhm ist verblasst, auch wenn der Umfang ihrer Wikipedia-Artikel das nicht vermuten lässt. Der afrikanische Einheitsstaat wurde nicht gegründet.
Der Polizeigeneral von Targat sah sich gezwungen, seine drei halb arabisch-, halb europäischstämmigen Beamten Canisades, Polidorio und Karimi durch weniger gut ausgebildete Beamten zu ersetzen. Canisades’ Leiche wurde im Niemandsland der Wüste in der Nähe einer verlassenen Schnapsbrennerei gefunden, mit einer Drahtschlinge um den Hals. Er war dort Hinweisen auf das Verschwinden zweier Fellachensöhne nachgegangen, die irgendjemand zu Unrecht in Zusammenhang mit dem Vierfachmord in einer ländlichen Kommune gebracht hatte. Als Canisades’ Mörder hängte man einen alten Schnapsbrenner, der keine Söhne, kein Alibi und, wenn man ehrlich sein wollte, auch kein Motiv hatte.
Amadou Amadou schlug sich in den Süden durch, verkaufte ein am Fahrersitz blutbekleckertes Fahrzeug auf der Straße nach Nouakchott an Nomaden und wurde zuletzt in der Gegend von Dimja gesehen, wo sich seine Spur verliert.
Karimi schied 1973 aus dem Dienst aus, nachdem er während der fünften Säuberungswelle von aufgebrachten Anwohnern des Salzviertels vom Bulldozer gezerrt und beinahe gesteinigt worden war. In einem französischen Krankenhaus, das auf Rückenmarksverletzungen spezialisiert war, ließ er sich fast zwei Jahre lang behandeln. Danach kehrte er im Rollstuhl sitzend und noch misanthropischer als zuvor an die Küste zurück. Eine angebotene Stelle im Innendienst lehnte er ab. Fast ein Jahr lang half er in der Bar seines Bruders am Ausschank und vergraulte die Gäste, bevor ihm eine kleine Rente bewilligt wurde und er sich der Kunst der Ölmalerei zuwandte.
Auf die Malerei war er mehr oder weniger zufällig bei einem seiner Ausflüge durchs Hafenviertel gekommen. In einem Schaufenster dort hatte er einen Malkasten mit Zinktuben entdeckt, die wie pralle, bunte Würste um ein Büschel Marderhaarpinsel lagen — für Touristen und ganz und gar überteuert. Unter Hinweis auf seine alten Kontakte handelte er den Preis auf ein Achtel herunter und widmete sich fortan ganz dem phantastischen Realismus.
Er konnte einige Bilder verkaufen, nahm an kleineren Ausstellungen teil, und auch eine Beteiligung an einer Gruppenausstellung im Jeu de Paume in Paris 1977 ist verbürgt. Der Katalog zur Ausstellung ist nur schwer erhältlich, aber wer sich dafür interessiert, findet noch heute ein mit Q. Karimi ’78 flott signiertes Gemälde im Polizeipräsidium von Targat. Seit mittlerweile dreißig Jahren schmückt es dort die Eingangshalle und wartet auf mit einer ansprechenden Zusammenstellung schöner Frauengesichter, grausiger Totenschädel und gespenstisch kahler Bäume, über denen Fledermäuse kreisen. Der Künstler verstarb 1979 an einer Lungenentzündung.
Polidorio schließlich war, wie wir uns erinnern, an einem Samstagmorgen des Jahres 72 mit seinem Mercedes in Richtung Tindirma aufgebrochen und galt seitdem als verschollen. Ein Foto von ihm hing eine Weile lang überall in Targat und Tindirma und nach einiger Zeit nur noch in Targat und schließlich nur noch im dortigen Polizeipräsidium. 1983 wurde er für tot erklärt, und diese Erklärung ist bis heute nicht angefochten worden.
In einem Brief schrieb Heather Gliese mir, ihre Mutter habe ein glückliches und erfülltes Leben geführt und sei rüstig, bei guter Gesundheit und wenige Tage vor ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag sanft entschlafen. Sie hinterlasse vier Enkel, ihre Bibliothek umfasse achttausend Bände in mehreren Sprachen, und ein immer wiederkehrender Albtraum, der sie in ihren mittleren Jahren eine Weile lang beunruhigt hatte bis hin zu einer unangenehmen Form der Schlaflosigkeit, sei zuletzt von selbst wieder verschwunden, ohne die Hilfe eines Therapeuten.
Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen. Ein kurzes Landschaftspanorama vielleicht noch, ein Kameraschwenk über den gezackten Schattenriss des Kangeeri-Gebirges vor abendlicher Dämmerung, in rosa und lila Dunst getauchte Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten, ein paar Fledermäuse, ein malerisches Maultier. Ry Cooder spielt Gitarre. Von links wandert ein Windrad ins Bild.