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Man könnte allerdings auch, wenn man ganz furchtlos ist und sich in der richtigen Stimmung befindet, noch einen Blick zurück auf eine nicht ganz unwesentliche Figur dieser Geschichte werfen, auf einen Mann, dessen verworrenes Schicksal uns eine Weile lang in Atem gehalten hat, einen Mann, der weder willentlich noch zufällig unter die Räder des Schicksals geriet, sondern einzig und allein durch eine falsche logische Schlussfolgerung; durch den Glauben an die Unschuld eines Schuldigen. Auf einen Mann mit Gedächtnisverlust.

Wollen wir das? Ein kurzer Blick zum Kameraassistenten, flüchtiges Schulterzucken beiderseits, und schon zoomt die Kamera die Öffnung eines Bergwerksstollens heran, die als winziger Punkt auf der gegenüberliegenden Bergflanke zu erkennen war, nun rasch größer wird, dunkler wird, bis sie die ganze Leinwand einnimmt und wir mit einer Mischung aus rasender Kamerafahrt und komplizierter Tricktechnik tief in das Innere des Berges hineinfliegen.

Hätten wir ein Nachtsichtgerät zur Verfügung, könnten wir nun grün flirrende Schattenbilder eines schlammigen Tümpels mit menschlicher Gestalt erkennen. Um den Tümpel herumfahrend zeigte das schwankende Bild uns den verkrampften Oberkörper von allen Seiten, zeigte den seit vielen Stunden schon verzweifelt mit dem Durst und dem Schlaf und dem Tod ringenden Mann. Dann ein rascher Schnitt auf das von aller Hoffnung verlassene Gesicht. Mit der bekannten Mischung aus Voyeurismus und Empathie könnten wir das Leiden dieses Menschen vorführen, könnten ihm zusehen bis zu seinem endgültigen Tod oder seiner sich aus den bisher bekannten Umständen nicht schlüssig ergebenden Rettung.

Wir könnten allerdings auch einräumen, dass wir über ein solches Nachtsichtgerät nicht verfügen. Und verfügten wir darüber, was nützte es uns in Wahrheit? Es ist dunkel in der Höhle, so dunkel, dass nicht ein Schimmer von Restlicht, der auf irgendeine technische Weise verstärkt werden könnte, in die Tiefen dieses Berges hinabdringt. Vollkommene, alles durchdringende, undurchdringliche Finsternis umgibt uns, sodass wir den Leser bitten müssen, sich das Folgende allein in seiner Phantasie vorzustellen.

66. SCHÖNE ERINNERUNGEN

The ball I threw while playing in the park

Has not yet reached the ground.

Dylan Thomas

Carl stützte sich auf den linken Ellenbogen. Er stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Er erinnerte sich, wie er einmal hinausgeschwommen war, im frühen Morgenlicht, in den grauen Ozean hinein. Es musste der Atlantik gewesen sein oder ein anderes großes Meer. Um ihn herum war gelber Nebel, der dichter geworden war über dem Wasser, nichts als gelber Nebel, das Ufer war lange verschwunden. Er hatte nicht wirklich die Orientierung verloren, aber eine abstrakte, namenlose Angst war plötzlich in ihm aufgestiegen. Allein auf dem Meer und mit nichts Greifbarem um sich herum und nichts unter sich als bodenlosem Wasser, in einer Welt ohne Formen, eingehüllt in gelbe Watte, hatte er geglaubt, den Tod zu fühlen. Noch hörte er die brütenden Möwen am Ufer, aber was, wenn sie aufgeflogen waren? Er schwamm zurück, und als er doppelt so lange geschwommen war, wie er seiner Meinung nach zum Strand hätte brauchen dürfen, hörte er die Schreie der Möwen hinter sich. Entsetzt änderte er abermals seine Richtung. Sein Körper kühlte aus, die Muskeln erlahmten, und ihm fiel ein, dass es das Klügste wäre, auf der Stelle zu bleiben und zu warten, bis die Sonne den Nebel auflöste, um mit letzter, verbliebener Kraft den Rückweg antreten zu können. Aber in seiner Panik fühlte er sich dazu nicht imstande. Immer weiter schwamm er in der einmal eingeschlagenen Richtung fort, und als er sich schon verloren glaubte, hob sich der Nebel, und er sah, dass er die ganze Zeit parallel zum kaum einen Steinwurf entfernten Ufer geschwommen war.

Jetzt, in einer Schlammgrube in der Tiefe des Berges, begraben unter kilometerdickem Fels, schien ihm diese Erinnerung eine der heitersten seines Lebens. Er wünschte sich, noch einmal im großen Meer zu sterben, unter dem gelben Licht des gleichgültigen Himmels, von klarem Salzwasser verschluckt. Gischt spritzte ihm ins Gesicht, Telegraphenmasten huschten vorbei, beide Hände umklammerten das Steuer.

Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür. Eine Eimerladung Sand flog in den Wagen, er schloss die Tür wieder.

Immer wieder kam er zur Besinnung, und dann sah er die Schatten am Ufer. Er dachte eine Weile ernsthaft darüber nach, woran man erkennen könne, ob man schon tot sei, und bemerkte, dass ein Mann neben ihm saß.

«Heiß hier», sagte er, und Carl, der keine Lust hatte, sich mit Geistern zu unterhalten, schwieg. Er betrachtete ein grünes Haus auf der anderen Straßenseite, auf dem eine grüne Fahne wehte.

«Heiß hier», wiederholte der andere.

«Ja», sagte Carl missmutig, tauchte unter und schlug mit dem Kopf gegen die Eisenstange. Es tat fast nicht mehr weh.

«Was ist los?»

«Was?»

«Wie Sie heißen!»

«Wie?»

Ängstlich schaute Carl sich um. Aber es war niemand da, nur ein kleines Mädchen, das einen Minztee vor ihm auf den Tisch stellte. Er verbrannte sich fast den Mund. Mit der Hand wedelte er über dem heißen Tee hin und her und fragte dann: «Wie heißen Sie

«Sie zuerst», sagte der Geist.

«Sie haben angefangen.»

«Was?»

«Sie haben doch angefangen.»

«Na schön», sagte der Geist und ahmte Carls Handbewegung nach.

«Herrlichkoffer.»

«Was?»

«Herrlichkoffer. Nicht so laut. Oder Lundgren. Für Sie Herrlichkoffer.»

«Für mich Herrlichkoffer.»

«Ja! Und jetzt schreiben Sie Ihren Namen hier — hier — hier.»

Der Geist schob einen Notizblock über den Tisch. War das ein Experiment? Oder wollten sie jetzt wirklich seinen Namen wissen? Er fing an zu schreiben, aber noch bevor er sieben Druckbuchstaben gemalt hatte, war der andere schon aufgesprungen und lief die Straße hinunter. «Ihr Notizblock», rief Carl dem Verrückten hinterher, aber der hörte ihn nicht. Und er hatte nicht nur Block und Kugelschreiber vergessen, er hatte auch seinen Tee nicht bezahlt. Das Mädchen fragte Carl, ob er dafür aufkäme.

Er legte Geld auf den Tisch, sie strich die Münzen von der Tischplatte in ihre kleine, schmutzige Hand, und am Ende der Straße bremste ein Chevrolet, aus dem vier Männer in weißen Dschellabahs stiegen. Zufällig sah er sie … und das nächste Bild war: Er rannte. Rannte vor den Männern davon zu seinem Auto, sah, dass der Mercedes zugeparkt war, erblickte eine weiße Dschellabah auf dem Fahrersitz und riss die Tür auf. Warf sich die Dschellabah über und versuchte, in der Menge unterzutauchen. Das Geschrei. Die Männer. Die Wüste. Fast stolperte er über einen kleinen Jungen, der bäuchlings vor ihm im Sand lag. Der Junge hob kraftlos eine Hand. Sein Gesicht war geschwollen, die Haut blätterte rissig von der Stirn. Er trug eine blaue Uniformjacke mit goldenen Tressen und hatte ein Sturmgewehr im Arm. Hosen trug er keine. An einem Knöchel hing ihm eine hellblaue Socke. Unter der Nase ein Ausrufezeichen aus getrocknetem Blut.

«A-a», sagte der Junge kaum hörbar.

«Was?» Carl drehte sich nach seinen Verfolgern um. Dann sah er wieder den Jungen an.

«A-a.»

«Was?»

Der Junge senkte den Kopf, schluckte mit zusammengekniffenen Augen und öffnete mit einem klickenden Laut den Mund.