In einem einzigen, sich endlos wiederholenden Traum sah er sich aus einer Wasserflasche trinken, die Helen ihm reichte.
Als er die Augen aufschlug, lag er in völliger Finsternis. Der Lichtpunkt war verschwunden. Er blinzelte, er drehte den Kopf. Der Punkt blieb verschwunden. Aber er geriet nicht in Panik. Draußen ist die Sonne untergegangen, sagte er sich, die ganze Welt liegt im Dunkel. Und er schlief erneut ein. Sein Körper fieberte. Seine Mundhöhle war eingetrocknet und hart wie Holz. Als er schließlich das Bewusstsein zurückkehren fühlte, wagte er lange nicht zu blinzeln. Ihm war übel vor Hunger und Durst und Schmerzen und Aufregung. Aber da war der Lichtschimmer wieder, und er war deutlicher als zuvor.
Während er darauf zukroch, erschienen die ersten Konturen. Nach zwei Biegungen wurde der felsige Untergrund sichtbar, über den er sich schleppte. Carl hob sich taumelnd auf die Füße. Die Eisenstange schlug an seinen Knien hin und her. Die Luft wurde besser, die Felsen bekamen Form und Farbe, und schließlich erblickte er in gar nicht so weiter Ferne einen von Steinzacken umrahmten Ausschnitt des Himmels.
Mit einem blut- und schlammverkrusteten Arm schirmte er seine Augen gegen das blendende Licht. Auf dem schmalen Felsplateau mit der Hütte des Bergarbeiters blieb er stehen. Er atmete wie ein kleiner Vogel. Das Windrad drehte sich. Der Tag war eben angebrochen.
Lange Minuten stand Carl einfach da und schaute hinaus in die tröstlich menschenleere Welt, eine Welt violetter Bergspitzen, in rosa und lila Dunst getauchter Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten. Eine Fledermaus schoss an Carls Schulter vorbei und hinter ihm in den Stollen hinab. Da meinte er plötzlich, ein leises Pochen zu hören. Das Geräusch war so leise, dass er sich nicht sicher war, ob es aus der Richtung der Holzhütte oder aus seiner linken Schläfe kam.
Im selben Moment meldeten sich die lebenswichtigen Fragen zurück: Wie komme ich an Trinkwasser? Wie an medizinische Versorgung? Und vor allem: Wie komme ich hier weg?
Krachend flog die Tür der Hütte auf, knallte gegen einen Stein und schlug wieder zu. Im Innern tobte jemand. Die Tür öffnete sich erneut, und Hakim von den Bergen kam herausgehüpft, nackt bis auf eine zerschlissene Unterhose, die um seine Knie schlotterte. Er sah schrecklich aus. Seine Füße waren mit einem Hanfseil zusammengebunden. Exkremente an seinen Schenkeln festgetrocknet. Um die Handgelenke trug er dicke Fesseln, die Verbindung zwischen ihnen war durchgescheuert. Ungelenk hopste er in den Morgen hinaus, die Unterhose schlackerte auf die Knöchel hinab. Unterm Arm die Winchester. Er starrte Carl an. Er schrie.
«Wir kennen uns», rief Carl und hob beschwichtigend die blutigen Hände.
«Allerdings», sagte Hakim und lud das Gewehr durch. «Scheißamerikaner!»
«Ich gehör nicht zu den andern! Ich bin keiner von denen!»
«Natürlich nicht — und ich bin der König von Afrika.»
«Ich hab dir nichts getan!»
«Du hast mir nichts getan! Nein, nur deine Frau, der stinkende Haufen Kameldung!», brüllte der Alte, legte an und schoss Carl eine Kugel zwischen die Augen.
Um Gleichgewicht bemüht, hüpfte er noch zweimal auf der Stelle, hopste dann in die Hütte zurück und machte sich von den Fußfesseln los. Gegen Mittag packte er seine Habseligkeiten, schleifte Carls Leiche in die Hütte, übergoss alles mit Benzin und warf ein brennendes Streichholz dazu. Dann stieg er mit seinem Bündel in die Ebenen hinab, Hakim III, der letzte der großen Bergarbeiter im Kangeeri-Massiv.
68. DIE MADRASA DES SALZVIERTELS
Tremblez, tyrans, et vous perfides
L’opprobre de tous les partis,
Tremblez! vos projets parricides
Vont enfin recevoir leurs prix!
Tout est soldat pour vous combattre,
S’ils tombent, nos jeunes héros,
La terre en produit de nouveaux,
Contre vous tout prêts à se battre!
Die Arme seitlich vom Körper weggestreckt wie ein Gekreuzigter, mit einem blauen Plastikkanister in der einen und einem verrosteten Schraubenschlüssel in der anderen Hand stand Jean Bekurtz auf dem Dach des Schulgebäudes, schaute gen Osten und erwartete den Aufgang der Sonne.
Jean war der Spross einer französischen Beamtenfamilie, der als junger Mann in Indochina gekämpft hatte und — wie seine Mutter dem Hausarzt der Familie anvertraute — nicht ohne leichten Schaden geblieben war.
Nach der Enthebung General Navarres blieb Jean noch einige Zeit in Fernost und begann dann ein unstetes Wanderleben, das ihn an viele Orte der Welt, nur nicht zurück nach Frankreich führte. Um 1960 herum schließlich blieb er an der nordafrikanischen Küste hängen, ein erster Vorbote der Generation, die es als ihre Hauptaufgabe empfand, die Lebensweise ihrer Eltern in Frage zu stellen.
Mit bescheidenem Gewinn verkaufte er Ledersandalen, Mützen, Sonnenöl, Badelaken, Schlüsselanhänger, T-Shirts, selbstgemachten Schmuck, Sonnenbrillen und gelegentlich Kif an Touristen. Es war kein übermäßig erfüllendes Leben, aber es wäre vermutlich noch lange so fortgegangen, wenn Jean nicht eines Tages am Strand von Targat zufällig dem charismatischen Edgar Fowler III begegnet wäre. Die beiden stolperten geradezu übereinander, und sie erkannten einander sofort. Links Siddhartha, rechts Feltrinelli, Brüder im Geiste, und an die ersten Wochen ihrer Freundschaft blieb in Jeans Kopf aus guten Gründen nicht mehr als eine sehr farbenprächtige und zugleich nebelhafte Erinnerung zurück. Gemeinsam bewohnten sie ein winziges Zimmerchen mit Meerblick (Jeans Erinnerung) bzw. Blick über Müllberge (Fowlers Erinnerung), sie begeisterten sich für italienische Filme über die sexuelle Ausbeutung der Frau durch die Gesellschaft, hantierten mit einem Chemiebaukasten für Kinder herum und lasen immer obskurere Schriftsteller, bis sie schließlich (und das Wie und Warum dieses Unternehmens liegt ebenfalls im Dunkel) auf die Idee kamen, eine Kommune in der Wüste zu gründen, die sich durch Gemüseanbau selbst finanzieren sollte.
Fowler lieferte die ideologische Generalausrichtung für das Projekt und rekrutierte im Handumdrehen eine beachtliche Zahl überaus ansehnlicher junger Frauen, während Jean im Wesentlichen die Idee mit der Landwirtschaft beisteuerte.
Als Kind der Großstadt hatte er nicht die geringste Ahnung von dem, was er zu dieser Zeit noch das Wunder des Lebens nannte, aber seine Begeisterung wirkte ansteckend. Barfuß und mit einer gelben Plastikgießkanne in der Hand sah man ihn des Morgens um bläulich-grüne Hirsekeime herumtanzen, die den harten Wüstenboden durchbrachen, und Vorträge halten über das unvergleichliche Gefühl, im Schweiße seines Angesichts die Scholle zu beackern und gerechten Lohn mit Gleichgesinnten solidarisch zu teilen. Es war Jeans überbordender, mitunter verzweifelter Enthusiasmus, der die Gemeinschaft anfangs zusammenschweißte, und es war auch Jean, der als Erster das Interesse am Gemüse wieder verlor.
Die unerträgliche Sonne über dem Kaafaahi-Felsen und der noch unerträglichere Sand! Das kleinkarierte Einpflanzen von Pflanzenkeimen, die einfach nicht wachsen wollten und mit unendlich mühsam herbeigeschlepptem Wasser besprenkelt werden mussten! Das entsprach nicht seinen Vorstellungen vom wilden Leben.
Es kam zu ersten Unstimmigkeiten mit den mittlerweile acht anderen Mitgliedern der Kommune, und schon nach wenigen Wochen war Jean das erste Mitglied, das wegen ideologischer Differenzen und nach endlosen Diskussionen über die Ausübung der freien und in seinen Augen überhaupt nicht freien Sexualität unter in Anführungszeichen erwachsenen Menschen aus der Kommune wieder ausgeschlossen werden musste, von seinem Freund Edgar Fowler persönlich exkommuniziert. Das war im Jahr 1966.