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Zurück in Targat lief das alte Geschäft mit dem Trödel nur noch schleppend. Jean hatte Konkurrenz bekommen, am Strand hauste plötzlich ein Dutzend Langhaariger. Er war gezwungen, auf Opium umzustellen; drei Viertel seines Verdienstes kassierte nun die Polizei. Er konnte sich kein Zimmer mehr leisten. Er verwahrloste. Nach Dien Bien Phu war dies das schrecklichste Jahr. Er trug sich bereits mit dem Gedanken, nach Frankreich zurückzukehren, als eines schönen Tages ein mittelloser Amerikaner auf ihn zukam und seine Tagesration gegen ein Surfbrett einzutauschen versuchte.

So etwas wie dieses Brett hatte Jean noch nie gesehen. Die gedankenvolle Form, die blendende Weiße. Noch am Abend desselben Tages paddelte er bäuchlings aufs offene Meer hinaus. Ihn begeisterte die neue Perspektive, die Freiheit, die Meditation der Wellen. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete und schwarze Wolken am Horizont sah, beunruhigte ihn das nicht. Als der Wind umschlug und in einen Sturm überging, beunruhigte ihn das nicht. Als die Grundsee die Wellen aufstellte und es ihn vom Brett fegte, fand er das einige Sekunden lang ungeheuer komisch. Dann begann sein Kampf ums Überleben. Er hatte die Orientierung sofort verloren. Unter Wasser wirbelte er über die Felsen dahin und schnappte in tosender Gischt nach Luft. Schließlich warf ihn ein Brecher an Land.

In seinem vollkommen zugerauchten Hirn übertrieb er die Gefahr, in der er sich befunden hatte, maßlos, und noch während er röchelnd und hustend am Strand lag und zusah, wie das Wasser hinter ihm auch sein Brett wieder ausspuckte, es zurücklutschte und abermals ausspuckte, verdichtete der Moment sich in ihm zu einer Kugel von strahlender Helligkeit. Dies war kein Kampf gegen hinterlistige Reisfresser mehr, dies war keine Intrige einer läppischen Gemüsekommune, dies war die Allgewalt der allgewaltigen Natur, ein Augenblick großer Entschiedenheit. Das Meer hatte ihm gezeigt, wozu es imstande war, und er, Jean Bekurtz, hatte dem Meer gezeigt, dass er das akzeptieren konnte. Der schmale Grat, das große Licht. Der quer über den Himmel geschriebene Satz: Du musst dein Leben ändern. Und er änderte es.

Jeden Tag, wenn die Brandung hochging, paddelte er nun hinaus. Er brauchte etwa zwei Wochen, bis es ihm gelang, sich zum ersten Mal auf dem Brett aufzurichten und einige Meter auf einer Welle hinabzugleiten, und in den folgenden Jahren konnte jeder, der am Strand von Targat Urlaub machte, ihn bei Wind und Wetter auf einem Brett im Meer stehen sehen, die Arme seitlich an den Körper gepresst, auf dem Rücken oder vor der Brust verschränkt. Gelegentlich sang er dabei. Jean hatte aufgehört zu rauchen, und er wurde so klar im Kopf, dass klar schon nicht mehr das richtige Wort dafür war. Braungebrannte Haut überspannte seine trainierten Muskeln, Salzwasser und Sonne bleichten die Haare.

Fast drei Jahre lang ging das so, ohne dass er einen Moment des Zweifels erlebte. Er war der erste Wellenreiter, den diese Gestade zu sehen bekamen, und in Dutzenden europäischen und amerikanischen Fotoalben dieser Zeit dürfte es noch heute das Bild eines langhaarigen, apollinischen, zärtlichen jungen Mannes geben, der mit einem wahlweise juchzenden, verschreckten, großäugigen, vorlauten oder einfach nur entsetzten Zehnjährigen im strandnahen Wasser das Balancieren übt. Targat 1969.

Doch so abrupt, wie dieses Leben begonnen hatte, so rasch endete es auch wieder. In der Pension, in der Jean logierte, war ein ausgemergelter Spanier mit zwei schweren Koffern abgestiegen. Dieser Spanier hatte eine Schiffspassage gebucht und war zu schwach, sein eigenes Gepäck zu tragen. Sein Unterkiefer war krebszerfressen, am Hals wuchsen Tumore, und sein Atem roch bereits wie aus einer anderen Welt. Wie er Jean anvertraute, wollte er zum Sterben zurück in die Heimat, für medizinische Behandlung sei es bereits zu spät.

Lächelnd nahm Jean die Koffer unter einen Arm, das Surfbrett unter den anderen und trug alles zum Hafen hinunter. Zwischen den Gepäckstücken auf dem Pier sitzend, rauchend, während das Schiff am Horizont langsam an Größe gewann, erzählte dieser Spanier Jean sein Leben. Er sprach sehr leise und höflich, etwas zusammenhanglos und mit halbgeschlossenem Mund, als versuche er, nicht allzu viel Jenseits in diese Welt hinauszuatmen.

Acht Jahre lang hatte er den Posten eines Lehrers im Salzviertel innegehabt, des einzigen Lehrers dort. Wobei Posten eine Übertreibung sei. Die Zentralverwaltung kümmere sich nicht, man arbeite praktisch für Gotteslohn. Mit sichtlicher Anstrengung schilderte er verschiedene Episoden seines Pädagogendaseins. Er wischte sich den Schweiß von Gesicht und Tumoren, zeigte mit ausgestrecktem Arm die Größe der Kinder an und fügte Platituden über neugierige Augen, unverdorbene Seelen und helles Kinderlachen hinzu. Genau genommen bestand die Pointe aller seiner Erzählungen in glockenhellem Kinderlachen. Wie er sie ausgebildet, wie er ihnen Hoffnung gegeben hatte. Wie sie ihn Monsieur Soundso genannt und seine Scherze mit ihrem Lachen vergolten hatten! Diese Dankbarkeit in schmutzumrandeten Augen. Nun bliebe ihre Ausbildung für immer unvollendet.

Er ahmte die kleinen, traurigen Gesichter beim Abschied nach, hustete etwas Blut auf den Pier, und Jean hatte keine Mühe, die eigentliche Botschaft hinter der Botschaft zu erfassen. Leute wie er und der Spanier rochen einander auf zehn Meilen gegen den Wind. Er ließ sich von dem Todgeweihten die Lage der Schule und die näheren Umstände beschreiben, winkte zum Abschied noch einmal aufmunternd zum Schiff hin, und zwei Tage später hatte das Salzviertel einen neuen Lehrer.

Eine pädagogische Ausbildung besaß Jean Bekurtz so wenig wie sein Vorgänger, aber Lesen, Schreiben und Rechnen konnte ja jeder.

Der Klassenraum war ein lehmgestampftes Geviert ohne Fenster, Licht kam durch das mit Matten nur halb verhängte Dach. Tische und Stühle stammten aus den Anfängen der Kolonialzeit. Auf manchen waren noch Parolen aus dem Khan-Krieg eingeritzt. Wenn zu viele Schüler zum Unterricht erschienen, saßen sie auf mitgebrachten Kanistern oder standen einbeinig hinten an der Wand. Die Stirnseite des Raumes schmückte seit neuestem eine riesige Tafel in Form eines schwarz lackierten, an beiden Enden abgesägten Surfbretts.

Und der Spanier hatte nicht übertrieben. Die Zahl der Schüler war unüberschaubar. Auch an Feiertagen kamen reizend verwahrloste und zutrauliche Jungen, um unterhalten zu werden, und Jean zog sie auf seinen Schoß und gab ihnen Nachhilfe in griechischer Geschichte. Wenn er ein wenig Geld hatte, kaufte er den Besten gefrorenes Wasser oder eine Schokolade oder was die kleinen Herzen so begehrten. In den Pausen spielten sie mit einem alten Fußball, und wenn eins der kleinen braunen Dinger Monsieur Bekurtz umdribbelt hatte, hob er es hoch und drückte dem Strampelnden zur Strafe einen feuchten Kuss auf die Stirn. «Ihr macht mich ganz verrückt!», rief der Lehrer dann, und glockenhelles Kinderlachen antwortete ihm. Aber meistens machten sie tatsächlich Unterricht.

Die Legende vom Wissensdurst der Unterprivilegierten bewahrheitete sich nur halb. Wie überall gab es anderthalb Intelligente, fünf Mittelbegabte und einen unüberschaubaren Rest von entzückender Schlichtheit. Einige der Ältesten und Geschundensten kamen nur zum Unterricht, weil sie zu schwach zum Arbeiten waren, weil sie auf der Straße wie Hunde getreten wurden und weil in der fernen Koranschule kein Platz für Abschaum war.

Schulbücher gab es nicht. Wenn Jean die Lust am Lesen und Rechnen verging, reproduzierte er schwerfällig das Halbwissen seiner eigenen Kindheit, las aus billigen Romanen vor oder zeichnete Diagramme aus Illustrierten an die Tafel. In dem Prospekt eines franko-belgischen Molkereikonzerns fand er die schematische Zeichnung einer Kuh, er ergänzte sie aus dem Kopf um vier Mägen mit unwahrscheinlichen Funktionen und sang das Hohelied der Naturbeobachtung. Ein toter Star, der morgens auf der Schwelle zum Schulgebäude lag, wurde mit einem Taschenmesser seziert und sein Flügelprofil mit der Tragflächenform einer Boeing verglichen. Das in einer Motorsport-Zeitschrift gefundene, phantastisch komplizierte Schema eines Otto-Motors schaute wochenlang als vergröberte Kreidezeichnung auf die Schüler hinab und wurde in allen Einzelheiten demokratisch gedeutet. Je nach Stimmungslage verwandelten sich so siebzig begeisterte Kinder wochenlang in Veterinäre, Piloten und Kfz-Mechaniker. Dass keines von ihnen jemals die Chance haben würde, tatsächlich einen dieser Berufe zu ergreifen, war ein Gedanke, den Jean in langen, einsamen Nächten von sich wegschob. Er erwachte morgens mit Kopfschmerzen und hatte Mühe, seinen gestaltlos flackernden Idealismus gegen die Geister der Nacht zu verteidigen. Mit den Jahren wurde er sentimental.