Wenn er beim Anbruch des Tages auf dem Dach stand und die improvisierte Schulglocke schlug, wenn er die geliebten Wesen aus allen Richtungen auf sich zueilen sah, wenn sie schwatzend und kichernd, singend und winkend, traurig und heiter in sein Haus einzogen, wusste er, dass alle Mühe vergebens war. Ihr Schicksal auf den Müllbergen war so vorherbestimmt wie unabänderlich von Geburt an, als sei die Religion, der sie anhingen, ausnahmsweise einmal mehr als ein Märchen, und die kindlich bunte, heitere Hoffnung auf Bildung und Freiheit, die Jean in ihre kleinen Seelen einzupflanzen suchte, leuchtete so trübe wie unstetig, schwächlich und verlöschend durch eine von Aberglauben und Patriarchat vernebelte Welt. Aber sie leuchtete! Und Jean, der in seinem Leben vieles begonnen und wieder hingeworfen hatte, blieb seiner Bestimmung treu. Er war der Lehrer im Salzviertel, und er blieb es, Jahr für Jahr.
Der Unterricht begann bei Sonnenaufgang, sommers wie winters. Die erste Stunde widmete sich dem lateinischen Alphabet, eine Gewohnheit, die Jean vom Spanier übernommen hatte. A wie Aufklärung. H wie Humanismus. Wörter mit Q gab es kaum. Jean schrieb auf die Tafel, und die Schüler schrieben mit Kreiden auf Holzbrettern, die zum Schulinventar gehörten. Die Bretter waren wie sandgestrahlt und wurden nach der Stunde mit Lumpen gereinigt.
Im Frühjahr 1972, als Jean bereits zwei Jahre Lehrer im Salzviertel war, kam es zu einer kleinen Revolution auf dem Schreibsektor. Abderrahman, der Sohn des Wasserverkäufers, hatte irgendwoher einen Bleistift und schrieb aus Angeberei auf Papierschnipsel. Khalid Samadi, der der Bäcker vor Ort war und somit viel mehr als ein Wasserverkäufer, beschaffte daraufhin seinem Sohn Tarik für teuer Geld ebenfalls einen Bleistiftstummel und ein Oktavheft mit zur Hälfte unbeschriebenen Seiten. Schon wenige Wochen später schrieben nur noch die elendsten der Elenden auf Holz.
Die beste Methode, an ein Schreibgerät zu gelangen, war, den Vierstundenmarsch durch die Stadt zu unternehmen und die Touristen an der Küste zu bedrängen. «Pour l’école, pour l’école» war ein Argument, dem gegenüber sich die rätselhaften Europäer weit weniger verschlossen zeigten als einem mit leerer Magengrube hingekrächzten «J’ai faim». Das Risiko, sich in der Millionenstadt zu verlieren, von Soldaten und anderem Gesindel eingefangen oder verschleppt zu werden oder aus welchen Gründen auch immer niemals zurückzukehren, nahmen alle auf sich. Hinter dem Hafen lagen Kisten mit zermatschtem Gemüse, in der Ville Nouvelle fand man mit ein wenig Glück Arbeit für eine Stunde, und im Südosten war die Gefahr, auf vergitterte Laster geworfen zu werden, am größten. Jeder dritte Ausflug endete in der Tragödie. Wie Insekten, die auf die Lichtquelle zusteuern, taumelten die Kinder über die Müllbarriere hinweg dem Reichtum entgegen.
Einer der vier Mohammeds schrieb mit einem angespitzten Holzrohr, das er in aus Kaffeeresten selbstgemachte Tinte tunkte. Rassul besaß einen Filzstift, in den er oben ständig hineinspuckte, damit etwas grünliche Flüssigkeit unten hinauslief. König der Alphabetisierten jedoch war Aiyub.
Aiyub gehörte zu den Aussätzigen und war von überschaubarer Intelligenz. Er kannte seine Familie nicht und lebte in einem mit Pappe bedeckten Erdloch. Zum Marsch in die Stadt war er zu schwach, eine Mine hatte ihm dem linken Unterschenkel weggerissen. Er war der Letzte, der auf Holz schrieb, bevor er eines Tages mit großer Gebärde einen Kugelschreiber aus den Tiefen seiner Dschellabah zog. Der Stift war aus poliertem Metall, das so sanft und matt und edel funkelte, dass es möglicherweise sogar Silber war. Nein, sicher war es Silber! Denn auf dem Clip standen eigenartige Buchstaben, ein unaussprechliches Wort, das selbst den Lehrer in Erstaunen versetzte. Ein solches Schreibgerät hatte noch nie jemand gesehen. Man konnte die Spitze des Stiftes vorne herausschauen lassen, und durch das Betätigen einer mechanischen Vorrichtung schoss hinten der Druckknopf heraus. Wenn man einem Mitschüler diesen Stift in den Nacken hielt und gleichzeitig die Druckmechanik betätigte, konnte man ihm einen kleinen, lustigen Schmerz zufügen.
Aiyub hütete den Stift wie einen Schatz. Er hielt ihn beim Schlafengehen mit beiden Händen umklammert, vier Wochen lang, dann raffte ihn die Ruhr dahin, und sein bester Freund Buhum erbte das kostbare Stück. Buhum konnte weder lesen noch schreiben; er tauschte den Stift bei Chaid gegen ein Fußballbild von Johan Cruyff und einen Pfefferminzbonbon. Chaid verlor den Stift an Driss, weil er gewettet hatte, dass Hitler Franzose sei. Driss kannte kein größeres Verlangen, als einmal ein nacktes Mädchen beim Pinkeln zu sehen. Und so kam der Stift zu Hossam, der eine Schwester hatte.
Hossam war dumm wie ein Spundpfahl im Wasser und pulte die Mechanik auseinander. Er zog die Metallfeder in die Länge, verlor einen Teil vom Druckknopf im Sand und pikste seiner Schwester mit der leeren Hülse ins Auge. Kreischend schlug die Mutter ihm das teuflische Ding aus der Hand und setzte ihn vor die Tür. Am nächsten Tag schrieb Hossam wieder auf dem Holzbrett. Einzelteile des Schreibgeräts fand man noch lange später im Sand unter der Wellblechbaracke. Hossams kleine Schwester grub irgendwann die Mine aus und steckte sie als Rückgrat in eine wacklige Puppe aus Gras, sodass sie aufrecht sitzen konnte, ihre Lieblingspuppe.
Diese kleine Schwester hörte auf den Namen Samaya. Samaya war sieben oder acht Jahre alt und von unvergleichlicher Schönheit. Ein greiser Tuareg, der so alt war, dass er noch vom letzten König des Massina-Reiches auf den Armen gewiegt worden war, sagte, in Samayas Antlitz schauen heiße Allahs Schöpfung begreifen. Jeden Morgen war sie die Erste in der Schule. Sie besaß nur wenig mehr Verstand als ihr Bruder, aber die engelsgleiche Güte des Herzens, die das ewige Leben gewinnt. Kein böser Gedanke war in ihr, ihre Reinheit ohne Makel. Als die fünfte Säuberungswelle das Salzviertel erfasste, riss Samaya sich von der Hand ihrer flüchtenden Mutter und rannte in die Baracke zurück, in der ihre Lieblingspuppe vergessen lag. Mit der Puppe zusammen wurde sie unter einer umstürzenden Häuserwand begraben. Ein Bulldozer rollte rückwärts darüber hin. Er hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab.
DANK
Der Autor dankt Karin und Christian Herrndorf, Lars Hubrich, Marek Hahn, Tex Rubinowitz, Christian Ankowitsch, Ulrich Tittel, Angelika Arendt, Daniel Akdemir, Uwe Heldt, Ulrike Sterblich, Ulrike Richter, Angelika Maisch, Kurt Scheel, Philipp Albers, Christoph Albers, Calvin Scott, Simone und Christian Will, Oliver Schweinoch, Aleks Scholz, Holm Friebe, Jens Friebe, Cornelius Reiber, Angela Leinen, Ira Strübel, Murmel Clausen, Max Hiller, Heather Gliese, Jan Bölsche, Ulrika Rinke, Karsten Täuber, Wolfgang Weber, Corinna Stegemann, Gerrit Pohl, Andreas Reithmeier, Thomas Bieling, Maik Novotny, Pia Potkowik, Leonid Leonow, Natascha Podgornik, Nikolaus Heveker, Christoph Virchow, Robert Koall, Marius Fränzel, Ines Kuth, Abdul Fattah, Jochen Reinecke, Natalie Balkow, Jörg Meyerhoff, Julia Schulte-Ontrop, Joachim Göb, Katharina Fischer, Utta Raifer, Felix Müller, Andrea van Baal, Stese Wagner, Steffi Roßdeutscher, Markus Kempken, Sophia Siebert, Michael Lentz, Per Leo, Jochen Schmidt, Klaus Cäsar Zehrer, Bettina Andrae, Kai Schreiber, Caroline Härdter, Lukas Imhof, Sascha Lobo, Meike Stoverock, Maren Stümke, Chris Stelzl, Ebbesand Flutwasser, Sebastian Steller, Jana Mohr, Henning Ernst Müller, Hermann Bräuer, Sonja Schlöndorf, Sabine Louwen, Isabel Bogdan, Michaela Gruber, Astrid Fischer, Christoph Pargfrieder, Martina Kink, Christoph Schulte-Richtering, Andreas Hutzler, Susann Pasztor, Volker Jahr, Astrid Köppe, Markus Honsig, Bruno Michalke, Jens Kloppmann, Anna Sophie von Gayl und insbesondere Carola Wimmer, Kathrin Passig und Marcus Gärtner, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre.