Robert Silverberg
Sanfte Kannibalen
Schau mal, Kate, da unten an der Promenade. Zwei prächtige Senioren gehen nebeneinander am Wasser entlang. Sie strahlen Macht, Autorität, Reichtum, Selbstsicherheit aus. Er ist Richter, Senator, Konzernpräsident, ganz ohne Zweifel, und sie ist — was? — sagen wir, Professor für internationales Recht, emeritiert. Da gehen sie zur Plaza, gelassen, lächelnd, den Passanten zunickend. Wie die Sonne in ihren weißen Haaren schimmert! Ich kann den Glanz dieser widergespiegelten Aura kaum ertragen: er blendet mich, er brennt mir in den Augen. Wie alt sind sie, achtzig, neunzig, hundert Jahre alt? Auf diese Entfernung wirken sie viel jünger — sie gehen aufrecht, mit geradem Rücken, sie könnten für fünfzig oder sechzig gelten. Aber ich weiß Bescheid. Ihr Selbstvertrauen, ihre Haltung weisen sie aus als das, was sie sind. Und jetzt, wo sie näherkommen, kann ich ihre runzligen Wangen sehen, ihre eingefallenen Augen. Keine Kosmetik kann das verbergen. Die beiden sind alt genug, um unsere Urgroßeltern zu sein. Sie waren schon weit über sechzig, bevor wir auch nur auf die Welt kamen, Kate. Wie großartig ihre Körper funktionieren! Aber warum auch nicht? Wir können uns ihre medizinische Vorgeschichte vorstellen. Sie hat mindestens drei Herzen gehabt, er ist bei seiner vierten Lunge, alle fünf Jahre beantragen sie neue Nieren, ihre spröden Knochen werden durch Hunderte Skelettsplitter von den Armen und Beinen unglücklicher jüngerer Leute verstärkt, ihr nachlassender Sinnesapparat wird unterstützt durch zahllose Nerventransplantationen, die auf die gleiche Weise beschafft werden, ihre alten Arterien werden mit glattem Teflon frisch umkleidet. Wandelnde Ansammlungen menschlicher Teile aus zweiter Hand, hier und dort gewürzt mit synthetischen oder mechanischen Ersatzorganen, das ist alles, was sie sind. Und was bin dann ich oder bist du? Neunzehn Jahre alt und verwundbar. In ihren Augen bin ich nichts als eine bereitstehende Reserve an gesunden Organen, die nur darauf warten, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Komm her, mein Sohn. Was für ein strammer, junger Mann du doch bist! Hast du eine Niere übrig für mich? Einen Lungenflügel? Ein ausgesuchtes Stück Darm? Zehn Zentimeter Ulnarnerv? Ich brauche ein paar Stücke von dir, mein Junge. Du verweigerst einer hervorragenden, älteren Führungspersönlichkeit wie mir doch nicht, was ich verlange, oder? Oder?
Heute kam mein Organbereitstellungsbefehl, ein kleines, knappes Dokument, sehr amtlich aussehend, aus dem Datenschlitz geschossen, als ich die Taste für meine Morgenpost drückte. Ich habe den ganzen Frühling schon damit gerechnet: keine Überraschung, kein Schock, eigentlich eher Gefühllosigkeit, nun, wo er da ist. In sechs Wochen habe ich mich zu meiner abschließenden Untersuchung im Transplantations-Amt einzufinden — nur eine Formalität. Man hätte mich nicht eingezogen, wenn ich nicht schon die höchste Einstufung als Organ-Reserve-Potential hätte — und dann stehe ich auf Abruf bereit. Die durchschnittliche Aufrufzeit beträgt zwei Monate. Bis zum Herbst wird man mich zerteilen. Iß, trink und sei lustig, denn bald steht der Chirurg vor meiner Tür.
Eine kleine Gruppe von Seniorbürgern blockiert die Zentrale der Liga für Körperliche Unversehrtheit. Es ist eine Gegendemonstration, ein Anti-Anti-Transplantations-Protest, die schlimmste Art politischer Äußerung, genährt von den häßlichsten aller negativen Emotionen. Die Demonstranten tragen Leuchtschilder mit dem Text: ›Körperliche Unversehrtheit — oder körperliche Eigensucht?‹ und ›Ihr schuldet den Führern euer Leben‹ und ›Hört auf die Stimme der Erfahrung‹.
Die Demonstranten sind Senioren niedriger Rangstufe, kaum über der Qualifikationsgrenze, diejenigen, die nicht sicher sein können, wirklich Organverpflanzungen zu erhalten. Kein Wunder, daß die Liga sie nervös macht. Manche fahren in Rollstühlen, andere sind bis zu den Brauen in tragbare Lebenserhaltungssysteme verpackt. Sie krächzen und schreien bittere Beschimpfungen und schütteln die Fäuste. Ich verfolge das von einem oberen Fenster des Liga-Gebäudes und fröstle vor Angst und Betroffenheit. Diese Leute wollen nicht nur meine Nieren oder Lungenflügel. Sie würden mir meine Augen, meine Leber, meine Bauchspeicheldrüse, mein Herz nehmen, alles, was sie zufällig gerade brauchen.
Ich habe mit meinem Vater darüber gesprochen. Er ist fünfundvierzig Jahre alt — zu alt, um persönlich von der Organbereitstellungspflicht betroffen zu sein, zu jung, um selbst noch Transplantate zu brauchen. Das versetzt ihn sozusagen in eine neutrale Lage, abgesehen von einem kleinen Faktor: sein Transplantations-Status ist 5 G. Das ist ziemlich hoch oben auf der Eignungsliste, nicht die oberste Stufe, aber nah genug. Wenn er morgen krank werden und die Transplantations-Kommission entscheiden würde, sein Leben sei gefährdet, wenn er nicht ein neues Herz, eine neue Lunge oder Niere bekäme, erhielte er sofort das Nötige. Ein solcher Status muß einfach seine Objektivität zur ganzen Organfrage beeinflussen. Jedenfalls erklärte ich ihm, daß ich Berufung einlegen wolle und vielleicht sogar Widerstand zu leisten entschlossen sei. »Sei vernünftig«, sagte er, »gebrauch deinen Verstand, laß dich nicht von deinen Gefühlen beirren. Lohnt es sich, deine ganze Zukunft um einer solchen Sache willen zu gefährden? Schließlich verliert nicht jeder, der eingezogen wird, lebenswichtige Organe.«
»Zeig mir die Statistik«, sagte ich. »Zeig sie mir doch.« Er kannte die Statistik nicht. Er hatte den Eindruck, daß nur ein Viertel bis ein Fünftel der Pflichtigen überhaupt aufgerufen wurde. Das verrät, wie eng die ältere Generation mit der Situation wirklich vertraut ist — und mein Vater ist ein gebildeter Mann, gut informiert, mit großer Ausdrucksfähigkeit. Keiner über fünfunddreißig, mit dem ich sprach, konnte mir irgendeine Statistik zeigen. Also zeigte ich sie ihnen. Aus dem Heft der Liga, gewiß, aber gestützt auf beglaubigte Berichte der Nationalen Gesundheitsbehörde. Niemand entkommt. Sobald man qualifiziert ist, kommt man immer dran. Der Bedarf an jungen Organen paßt sich unausweichlich dem Angebot an Organen an. Auf die Dauer werden sie uns alle erwischen und zerstückeln. Wahrscheinlich wollen sie das sogar. Die jungen Angehörigen der Gattung loswerden, die stets nur Ärger machen, indem man uns für Ersatzteile ausschlachtet und wiederverwendet, Lunge um Lunge, Bauchspeicheldrüse um Bauchspeicheldrüse, für ihre eigenen verfallenden Leiber.
Der Krieg geht weiter. Ich glaube, das ist jetzt das vierzehnte Jahr. Natürlich ist man über das Töten längst hinaus. Seit ‘93 oder so hat es keine direkten Auseinandersetzungen mehr gegeben, gewiß nicht mehr seit dem Inkrafttreten der Organspendeverpflichtungs-Gesetzgebung. Die Alten können es sich nicht leisten, kostbare junge Körper auf dem Schlachtfeld zu vergeuden. Deshalb tragen Roboter unsere territorialen Streitigkeiten aus, rammen sich klirrend mit den Schädeln, legen Minen und erschnüffeln die Minen des Gegners, graben Tunnel unter seinen Abschirmungen, und so weiter, und so weiter. Dazu natürlich das quasi-militärische Vorgehen — Wirtschaftssanktionen, Blockade von dritten Mächten, Propagandasendungen von gnadenlosen Raumsatelliten, die Originalsendungen einfach überlagern, und was dergleichen mehr ist. Ein raffinierterer Krieg als diejenigen, die sie früher geführt haben: niemand stirbt dabei. Trotzdem zehrt er an den nationalen Ressourcen. In diesem Jahr steigen die Steuern erneut, das fünfte oder sechste Jahr hintereinander, und eben hat man einen besonderen Friedenszuschlag auf alle metallhaltigen Waren erhoben, der Kupferknappheit wegen. Es gab einmal eine Zeit, als wir hoffen konnten, daß unsere verrückten alten Führer wegsterben oder sich wenigstens aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen würden, fortwankend in ihre Landhäuser mit Magengeschwüren oder Gürtelrose oder Krätze, damit neue junge Friedensmacher nachrücken konnten. Aber jetzt machen sie einfach endlos weiter, unsterblich und wahnsinnig, unsere Senatoren, unsere Kabinettsmitglieder, unsere Generale, unsere Planer. Und auch ihr Krieg geht immer weiter, ihr absurder, unbegreiflicher, diabolischer, in sich selbst Befriedigung findender Krieg.