»Wenn man Dörfer und Brunnen nicht zu berühren braucht, kann man sie schon eher erreichen; auf dem Karawanenwege aber, wo er von Zeit zu Zeit Wasser findet und sich in den Dörfern auch Lebensmittel kaufen oder erbitten kann, wird ein Fußgänger sie in zwanzig Wegstunden erreichen.«
»Giebt es nahe da drüben französisches Militär?«
»Ja, in Tibessa; von hier aus vierundzwanzig Stunden weit.«
»So schick ihn dort hinüber! Ich will ihm das Geld dazu geben, und in Tibessa mag er sich von der
glorreichen France anwerben lassen.«
Er zog seine lange, volle Börse und warf dem Manne einiges Geld vom Kamele zu.
»Ist dir der Weg von hier nach Lheis bekannt?« fragte ich den letzteren.
»Ja.«
»So wende dich dorthin. Von da aus gehst du über Zaufur, Thaleh und Hydra nach Keifah, welches nicht mehr tunesisch, sondern algerisch ist. Dann hast du nicht mehr weit nach der kleinen französischen Stadt Tibessa, wo Militär liegt. Dort kannst du dich anwerben lassen, wenn du nicht Lust hast, zu etwas anderem zu greifen. Jemand, der schon Soldat gewesen ist, wird von jedem Werber gern willkommen geheißen. Du hast von hier bis nach Tibessa immer Karawanenweg, und wirst also weder zu hungern noch zu dursten brauchen.«
Das Gesicht des Mannes wurde sonnenhell; er brach in wahrhafte Dankeshymnen aus; wir aber hatten keine Zeit, dieselben anzuhören, und ritten weiter.
Die Spur war mit großer Deutlichkeit zu sehen, wich aber bald, wenn auch nur ein wenig, nach Westen ab.
»Sonderbar!« brummte Emery. »Wir denken, die Kerle werden nach Osten abbiegen, und nun thun sie es westlich!«
»Jedenfalls nicht ohne Absicht,« antwortete ich. »Wahrscheinlich kennt der Kolarasi dort drüben ein Terrain, welches felsig ist und keine Fährte annimmt; da will er uns verschwinden.«
»Wird so einem Flachkopfe aber nicht gelingen!«
»Schwerlich! Wir reiten einfach geradeaus. Die Meltons sind nach Westen geritten, um ihre Spur zu verwischen; dann werden sie nach Osten umbiegen; folglich müssen wir, wenn wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus reiten, unbedingt wieder auf ihre Fährte treffen.«
»Well! Und haben dabei eine tüchtige Zeit gewonnen!«
Winnetou war uns ein wenig voraus und hatte also unsern Gedankenaustausch nicht gehört, doch kannte ich ihn gut genug, um überzeugt zu sein, daß er nicht anders rechnen werde, als wie wir. Und richtig! Er hielt sein Kamel an, stieg ab, betrachtete die Spur genau, stieg wieder auf und ritt in gerader Richtung weiter, ohne sich nach uns auch nur umzusehen. Er kannte eben auch meine Art, zu denken und zu schließen, gerade so genau, wie ich mit der seinigen vertraut war. Wir hatten uns vollständig ineinander hineingelebt.
Wir ritten eine Stunde lang und noch eine. Emery wollte ungeduldig werden, denn er begann zu glauben, daß wir uns doch vielleicht verrechnet hätten. Da aber sahen wir, daß Winnetou, welcher uns jetzt weiter voraus war, wieder abstieg und den Boden betrachtete. Als wir ihn einholten, sahen wir eine Fährte von drei Kamelen, welche von Westen her gerade über unsere Richtung nach Osten führte.
»Sie sind es,« meinte der Apatsche. »Wollten Winnetou und Old Shatterhand irre führen. Pshaw!«
Es war köstlich, dabei sein Gesicht zu sehen; ungefähr so, wie dasjenige eines Professors der Astronomie, dem ein Kohlengrubenarbeiter die Entfernung des Sirius berechnen, oder die Entstehung der Kometen erklären will. Freude hatte ich über die Art und Weise, wie er auf dem Kamele saß. Er, der ohne alle Uebung war, zeigte dabei eine Sicherheit, welche mich in Erstaunen hätte versetzen können, wenn mir nicht bekannt gewesen wäre, mit welcher Leichtigkeit er sich in alles fand, was körperliche oder geistige Gewandtheit voraussetzte.
Nachdem er wieder aufgestiegen war, wendeten wir uns in einem rechten Winkel rechts, nach Osten zu, wohin die wiedergefundene Spur jetzt führte. Wir folgten derselben den ganzen Tag, bis es so dunkel wurde, daß wir sie nicht mehr sehen konnten. Da hielten wir an, um auf der freien, ringsum ebenen Steppe zu übernachten. Am nächsten Morgen wurde, sobald es Tag geworden war, der Ritt fortgesetzt. Die Fährte war jetzt nicht mehr so deutlich wie gestern. Emery sprach die Ansicht aus, daß sie bald wieder frisch sein werde, da die Flüchtlinge doch höchst wahrscheinlich während der Nacht auch geruht haben mußten, doch war ich anderer Meinung. Die beiden Meltons waren sicher bestrebt gewesen, einen möglichst großen Vorsprung zu bekommen, und hatten gewiß die ganze Nacht dazu verwendet. Das konnten sie, weil der ältere von ihnen die Gegend kannte, da er als Offizier früher wiederholt hier gewesen war. Winnetou stimmte mir bei.
»Aber warum sollen sie so erpicht auf einen so großen Vorsprung sein?« fragte der Engländer. »Sie haben denselben ja gar nicht nötig.«
»Nicht?« antwortete ich. »Wieso?«
»Weil sie annehmen werden, daß sie uns irre geführt haben.« »Und daß wir etwa nach Tunis reiten?«
»Ja. Sie sind ja gestern abgewichen, um ihre Spur unkenntlich zu machen. Nun werden sie überzeugt sein, daß sie uns vollständig getäuscht haben.«
»Ueberzeugt wohl nicht, wenn sie auch annehmen können, daß die Möglichkeit dazu vorhanden ist. Thomas Melton kennt Winnetou und mich. Er mag annehmen, daß er uns getäuscht hat, doch nur auf kurze Zeit. Wenn er sich alles vergegenwärtigt, was er von uns weiß, so muß er sich sagen, daß wir durch seinen Kniff, falls wir uns durch denselben überhaupt täuschen ließen, höchstens einige Stunden Zeit verloren, dann aber die Spur wiedergefunden haben, um derselben desto nachdrücklicher zu folgen.«
»Hm! Ob sie überhaupt für gewiß annehmen, daß wir ihnen nachreiten?«
»Ganz sicher! Wäre dies nicht der Fall, so hätten sie sich nicht die Mühe gegeben, uns irre führen zu wollen, auch wären wir längst an ihre Lagerstelle gekommen. Sie sind die ganze Nacht fortgeritten.«
»Mein Bruder Scharlieh hat recht,« stimmte mir der Apatsche bei. »Sie haben gar nicht angehalten und sind weit vor uns, weil sie bessere Kamele besitzen als wir und weil wir gelagert haben. Wir müssen uns beeilen.«
Es stellte sich heraus, daß wir uns nicht geirrt hatten, denn wir ritten den ganzen Vormittag auf der immer undeutlicher werdenden Spur, ohne zu sehen, daß die beiden Reiter auch nur einmal abgestiegen waren.
Die Steppe war längst wieder in Sandwüste übergegangen. Jetzt trafen wir aber auf einzelne, spärliche Grashalme, welche nach und nach dichter und kräftiger wurden, und dann erkannten wir niedrige, lang gestreckte Hügel, welche sich vor uns im Osten erhoben und von Nord nach Süd zu streichen schienen.
»Das muß das Wadi Budawas sein,« sagte ich. »Hinter demselben liegen dann die Ruinen von El Khima, welche wir südlich liegen lassen müssen, um über den nördlichen Abhang des Dschebel Ussalat zu reiten.«
»Ich denke, wir müssen der Fährte folgen,« bemerkte Ernery.
»Allerdings; aber ich bin überzeugt, daß die Meltons denselben Weg einschlagen, weil er der bequemste nach der Küste ist.«
»Well! Doch, sind da drüben links nicht Reiter?«