Ein freier Indianer, und jahrelang eingesperrt! Entsetzlicheres kann es gar nicht geben! Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder, und die Folge davon war, daß er sich schnell entschied:
»Ich sehe ein, daß mein Bruder recht hat; die Mimbrenjos sollen also auch mit eingeschlossen sein. Hat Old Shatterhand noch weitere Bedingungen?«
»Für jetzt nicht. Meine sonstigen Vorschläge werde ich während der Beratung machen, denn ich nehme natürlich an, daß "listige Schlange" das Kalumet nicht eher mit mir rauchen wird, als bis er mit seinen ältesten Kriegern gesprochen hat.«
»Ja, sie müssen zur Beratung gezogen werden. Wird Old Shatterhand mit mir zu ihnen gehen, oder wollen wir sie kommen lassen?«
»Wir werden das letztere tun.«
»So brauchen wir einen Boten. Wen wird mein weißer Bruder senden?«
»Den Mimbrenjoknaben. Er ist klug, treu und ehrlich; ich kann mich auf ihn verlassen.«
»Mein Bruder wird erfahren, daß ich ebenso ehrlich und treu bin. Ich werde ihm meinen Wampum mitgeben als Beweis, daß ich bei euch bin und daß alles, was er meinen Kriegern sagt, wahr ist. Er mag ihnen erzählen, was geschehen ist, und die fünf erfahrenen Krieger herbeibringen, deren Namen ich ihm nennen werde; sie sollen unbewaffnet kommen, um zu zeigen, daß sie ohne Arg im Herzen sind.«
Nichts konnte mir lieber und erwünschter sein, als gerade diese Wendung der Dinge, durch welche ich Gelegenheit fand, unsere Erfolge ganz zum Vorteile meiner armen Landsleute auszunützen, denn daß diese von den mexikanischen Gerichten weder eine Entschädigung noch sonst etwas zu erwarten hatten, davon war ich vollständig überzeugt. Lieferte ich Melton an den Juriskonsulto aus, so entging er wohl gar der Strafe und ich mußte auch die Brieftasche hergeben, deren Inhalt, obgleich ich in Beziehung auf denselben kein Verwendungsrecht besaß, ich für Besseres bestimmt hatte. Ich war also gesonnen, Melton dem Häuptling zu überantworten. Man mag mich da der Härte oder gar der Grausamkeit zeihen; ich mache mir keine Vorwürfe, denn dieser Teufel hatte alles andere verdient, aber nur keine Schonung.
Der Mimbrenjo übernahm den Auftrag schon deshalb gern, weil derselbe nicht ganz ungefährlich war; er erhielt ausführliche Anweisungen und ritt auf Winnetous Pferd davon. Die Gesellschaft lagerte sich in einem Kreise, in dessen Mitte Melton genommen wurde; ich aber ließ mich außerhalb desselben nieder, um nun unbemerkt von ihm den Inhalt seiner Brieftasche zu untersuchen. Zunächst zählte ich den Betrag der Banknoten. Der Mann war bedeutend reicher mit Geldmitteln versehen, als ich geglaubt hatte, denn die Summe betrug etwas über dreißigtausend Dollars. Ob das Geld sein Eigentum war oder den Wellers teilweise mit gehörte, oder auch aus der Mormonenkasse stammte, das ging mich nichts an. Sodann fand ich die schon erwähnten Kontrakte, auch den Kaufkontrakt über die Hazienda del Arroyo und endlich eine Anzahl Briefe, welche ich öffnete, um sie zu lesen. Die meisten stammten aus Utah, einige aus San Franzisko; alle aber bewiesen, daß er über die Grenze gekommen war, um im Interesse der Mormonen eine größere Landstrecke zu erwerben und so den ersten Schritt zur Verbreitung derselben auch in Mexiko zu tun. Zwei oder drei von ihnen enthielten Beweise darüber, daß er sich mit den Wellers verbunden hatte, die Erwerbung auf unehrlichem Wege vorzunehmen, um sich eine ansehnliche Summe für die eigenen Taschen zu verdienen.
Ein einziger Brief war andern Inhaltes. Das Couvert war nicht dabei, und da die Angabe des Datums und des Ortes fehlte, so wußte ich nicht, aus welcher Zeit und woher er stammte. Die Schrift hatte aber eine so frische, tief dunkle Färbung, daß ich annahm, dieser Brief sei erst in neuerer Zeit geschrieben worden. Er war »dear uncle«, also »lieber Onkel« überschrieben und enthielt in seinem ersten Teile Mitteilungen ganz unverfänglicher Art, während am Ende folgende Zeilen meine Aufmerksamkeit erregten.
»Und fragst Du, wovon ich hier lebe, so kann ich Dich durch die Versicherung beruhigen, daß es mir sehr wohl geht. Ich habe im Spiele Glück und außerdem einen Freund gefunden, dessen wohlgefüllte Tasche mir stets offen steht. Erinnerst Du Dich noch des reichen einstigen Armeelieferanten, dessen Bekanntschaft Du in St. Louis gemacht hast? Er war ein geborener Deutscher, spielte sich aber gern als Yankee auf und hatte darum seinen ursprünglichen Namen Jäger in das englische Hunter verwandelt. Wie ich jetzt erfahren habe, ist er als Schustergeselle von drüben herübergekommen, hat trotz oder gerade wegen seiner Dummheit großes Glück gehabt und es durch eine Heirat zu einem Ladengeschäft in der William-Street, New York, gebracht. Während des Krieges gegen die Südstaaten lieferte er zunächst Schuhwerk, später auch Montierungsstücke und anderes für die Armee und hat da einen unendlichen Haufen Geld zusammengebracht. Jetzt arbeitet er nicht mehr, ist kränklich geworden und gibt sich Mühe, seine ungeheuren Zinsen immer wieder zum Kapital zu schlagen, obgleich er dies gar nicht nötig hat, da seine Frau gestorben ist und er nur ein einziges Kind, einen Sohn, besitzt, welcher als Universalerbe später gewiß genug zum
Leben hat. Der Alte ist geizig im höchsten Grade, hat seinen armen Verwandten drüben noch nie einen Pfennig geschickt, besitzt dabei jedoch eine solche Affenliebe für den Jungen, daß dieser das Geld zum Fenster hinauswerfen kann, ohne den geringsten Vorwurf zu befürchten. Sein Vater hat ihm in Verleugnung seiner deutschen Abstammung den wunderbaren Vornamen Small gegeben. Er ist ein hübscher, junger Mensch, verzogen, ohne Charakter und Energie, sonst aber gar kein übler Kerl, besitzt nicht eine Spur von Menschenkenntnis und ist so vertrauensselig gegen jedermann, daß er alle die Blutegel, welche sich hier an ihn oder vielmehr an seinen Geldbeutel gehängt haben, für wahre Freunde hält. Es wird mir aber gelingen, ihm, natürlich nur zu meinem Vorteile, die Augen zu öffnen, denn ich habe dadurch, daß ich seine Schwächen poussiere, einen Einfluß auf ihn gewonnen, welcher von Tag zu Tag größer wird.
»Wie ich diesen Small Hunter, der für uns ein fetter Bissen werden kann, kennen gelernt habe, fragst Du? Auf eine höchst eigentümliche Weise. Ich wurde gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft hier von einem Kellner mit Mister Hunter angeredet. Dies wurde von andern Personen wiederholt, und als ich dann während eines Konzertes diesem Mister Hunter vorgestellt wurde, standen wir, uns ganz erstaunt anstarrend, eine Weile gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Wir sind einander nämlich zur Verwechslung ähnlich, und zwar in Beziehung auf die Gestalt, die Gesichtszüge und die Stimme. Und wenn ich seinen etwas langsamen und schlotternden Gang annehme, wird sein vertrautester Bekannter sich täuschen. Das ist ein Zufall, den ich benutzen werde und der ihn veranlaßte, mir sofort seine Freundschaft zu schenken. Es macht ihm großen Spaß, mit mir verwechselt zu werden.
Zunächst gewinne ich ihm im Spiele auf unauffällige Weise soviel und noch mehr ab, als ich brauche.
»Er hat sich mir vollständig an- und aufgeschlossen, behandelt mich wie einen Zwillingsbruder und mag nichts davon hören, wenn ich auch nur leise beginne, von Trennung zu sprechen. Er wünscht, daß ich ihn nächstens auf einer großen Reise begleite. Er reist nämlich leidenschaftlich gern, und sein sonst so geiziger Vater setzt dem, trotz der Summen, die es kostet, nichts entgegen. Seine liebste, ja fast einzige Lektüre sind Reiseschilderungen. So hat er die Vereinigten Staaten durchreist, war in Canada und Mexiko und ist sogar schon auch in Janeiro und England gewesen. Jetzt spukt der Orient in seinem Kopfe. Gelehrte, Fürsten, Prinzen reisen hin; warum soll der Sohn eines amerikanischen Millionärs nicht dasselbe können! Ich gehe natürlich nicht nur auf diese Marotte ein, sondern gebe mir alle Mühe, ihn darin zu bestärken. Es würde mir ja auf diese Weise möglich, meinen Vater zu sehen, welcher wegen Old Shatterhands, der auch so ein verwünschter Deutscher ist, aus dem Lande mußte und, wie Du weißt, die nötige Verborgenheit jenseits des Mittelmeeres gesucht hat.