Jetzt gab Winnetou das Zeichen zum Beginne. Ich richtete mich zur Seite und sah scheinbar über den See hinüber, hatte aber in Wirklichkeit die Gegner, denen ich das linke Profil zukehrte, scharf im Auge. Hinter ihnen brannte ihr helles Feuer; hinter mir war es dunkel, da das unserige verlöscht war; ich befand mich also gegen sie im Vorteile, da ich ihre Speere, wenn sie dieselben warfen, viel deutlicher sehen konnte, als sie die meinigen; die ihren kamen aus dem Hellen, die meinen aus dem Dunkeln geflogen.
Auch sie bewegten sich nicht; sie warteten, daß ich beginnen Solle; das fiel mir aber nicht ein. Wer seine Lanzen verschossen hatte, mußte stehen bleiben und auf sich zielen lassen, bis der Gegner auch keine mehr hatte. So lautete das Uebereinkommen, und das wollte ich benutzen; sie sollten Todesangst ausstehen.
So vergingen fünf Minuten und wieder fünf. Sie wurden ungeduldig. Sie mochten wirklich glauben, daß ich die Augen zur Seite und nicht auf sie gerichtet hielt, denn "Langes Haar" trat ganz plötzlich einen Schritt zurück, um auszuholen, und warf. Mir war zum Ausweichen auch ein Schritt erlaubt; ich that ihn, und das Geschoß flog an mir vorüber, ohne daß ich zu parieren brauchte. Dann warf der "Starke Arm" zweimal und "Langes Haar" noch einmal. Jeder hatte noch drei Lanzen. Ich hörte, daß sie einander Vorwürfe machten, schlecht gezielt zu haben, und rief ihnen zu:
»Die Krieger der Yumas sind Kinder, welche keine
Gedanken und keine Erfahrung haben; sie zielen ganz leidlich, werden mich aber auf diese Weise niemals treffen.«
»Meint Old Shatterhand dies wirklich?« höhnte der »starke Arm«. »Wir wissen, daß er vom Lanzenwerfen nichts versteht, obwohl er ein Meister im Gebrauche anderer Waffen ist. Mein nächster Wurf wird ihn durchbohren. Hat er vor seinem Tode noch etwas zu bestellen?«
»Ja. Gieb, sobald ich gefallen bin, dem "langen Haar" als Vermächtnis von mir zehn tüchtige Ohrfeigen, und laß sie dir dann von ihm wiedergeben, Das wiederholt ihr so zehnmale, bis jeder hundert hat!«
»Das werde ich sofort ausrichten, und zwar an dir, mit dieser Lanze. Da, hast du sie!«
Der Aerger vermehrte seine Kraft, nahm ihm aber die Sicherheit des Zielens und Wägens. Die Lanze sauste an mir vorüber und dann auch diejenige des »langen Haares«.
»Ich sagte es ja,« lachte ich. »Ihr seid Kinder, die sich reizen lassen und weder Ueberlegung noch Berechnung haben. Ich will euch sagen, wie ihr es machen müßt. Warum seid ihr zu zweien? Warum werft ihr einzeln? Einer Lanze weicht man doch leichter aus als zweien!«
»Uff!« rief das Lange Haar«, und »Uff!« rief auch der »starke Arm«.
Sie sahen einander verwundert an, denn ein so einfacher, so selbstverständlicher Gedanke war ihnen nicht gekommen. Es war nicht klug von mir, sie darauf aufmerksam zu machen, aber ich fürchtete mich nicht, denn ich hatte, ebenso wie Winnetou, auch darin Uebung, zwei Lanzen, die zu gleicher Zeit geworfen werden, zu entgehen. Die eine pariert man, und der andern weicht man durch einen Schritt zur Seite aus. Freilich dürfen sie nicht von Kennern geworfen werden, sonst ist man unbedingt verloren. Zielen beide nach demselben Punkte, dem Kopfe, oder der Brust, und wirft dabei der eine auch nur einen Moment später als der andere, so wird die erste wahrscheinlich pariert, die zweite trifft das Ziel aber gewiß.
Das wußten die beiden Yumas glücklicherweise nicht. Sie handelten zwar nach meiner Anweisung, sagten aber einander nicht, wohin zu zielen sei; ihre Lanzen nahmen nicht denselben Flug - ein Schlag mit den meinigen, ein schneller Seitentritt, ich wurde nicht getroffen. Der Aerger darüber verleitete sie, das Manöver sofort zu wiederholen, und zwar mit demselben Erfolge oder vielmehr Mißerfolge. Sie hatten nun keine Lanzen mehr, während ich die meinigen alle noch besaß.
Jetzt ging Winnetou von mir fort und näherte sich ihnen, um sie durch sein Gewehr zum Bleiben zu nötigen, falls sie die Absicht zeigen Sollten, sich meinen Würfen durch die Flucht zu entziehen. Ich aber nahm eine Lanze in die Rechte, die andern vier in die Linke und sagte:
»Jetzt werden die Krieger der Yumas erfahren, ob Old Shatterhand den Gebrauch dieser Waffe kennt. Ihr seid unehrlich gegen mich gewesen; es soll euch aber nichts nützen.
Selbst meinem Bruder Winnetou ist die Unehrlichkeit entgangen, obgleich jeder, der ein Auge oder ein Ohr besitzt, sie sogleich erkennen mußte.«
»Eine Unehrlichkeit?« fragte der Apatsche. »Welche? Ich weiß von keiner!«
»Sind nicht zehn Speere gegen mich gewesen, zehn gegen einen, und ich habe nur fünf gegen zwei?« »Uff! Das ist richtig!« rief er verwundert aus.
»Rechne nach! Sie hatten zehn gegen mich; ich habe nur zwei und einen halben gegen den Mann, also waren sie viermal besser gegen mich gestellt, als ich gegen sie. Ist das gerecht?«
»Nein; aber niemand hat daran gedacht!«
»Ich dachte daran, sagte aber nichts, da ich die Ungleichheit ausgleichen werde. Jetzt der erste Wurf!«
Winnetou sah mich an und nickte bedeutungsvoll zur Seite. Damit fragte er, ob der erste Wurf, sowie wir zu thun pflegten, ein Versuch sein solle. Ich nickte wieder. Links hinter den Gegnern stand ein Baum, ich weiß nicht mehr, welcher Art, der hatte unter seinem ersten Aste einen Schwamm; den wollte ich treffen. Ich setzte den linken Fuß vor, wog und wägte den Speer in der Rechten, indem ich dieselbe auf- und niedergehen ließ, hob sie hoch empor, nahm den Schwamm scharf ins Auge, gab dem Speer durch eine Daumenbewegung die nötige Selbstdrehung und schleuderte ihn - er kam mitten in den Schwamm zu stecken. Die Yumas lachten hell auf, denn die Lanze war wenigstens vier Schritte weit an ihnen vorübergeflogen. Winnetou blickte nach dem Baume, nickte befriedigt über seinen Schüler und rief den Lachern zu:
»Worüber lachen die Yumas? Haben sie nicht soviel Verstand, einzusehen, daß dies nur ein Probewurf war? Old Shatterhand hat noch vier Speere; zwei davon werden dem "langen Haare" und dem "starken Arme" in die linke Hüfte fahren. Er könnte sehr leicht ihr Herz treffen, ihre Brust durchbohren, will sie aber nicht töten, weil er ein Christ ist und sein Manitou es ihm verbietet!«
Er hatte mir das Ziel gegeben und ich wußte, daß ich es treffen würde - mittels des Doppelwurfes. Der erste
Speer muß nämlich die Aufmerksamkeit dessen, den man treffen will, auf sich lenken; der zweite folgt augenblicklich nach und geht, wenn man Uebung hat, niemals fehl. Ich ließ zwei Speere fallen, nahm den dritten in die linke, den vierten in die rechte Hand und rief:
»Also in die linke Hüfte hat Winnetou gesagt. Zuerst den "starken Arm". Er mag aufpassen!«
Das Auge des Genannten hing an meiner Rechten. Ich zielte nach seiner rechten Seite, wodurch er mir beim Ausweichen die linke bieten mußte, und warf; dieser Speer war noch nicht an dem Roten vorüber, so folgte schon der zweite, den ich aus der rechten in die linke gegeben hatte; es muß dies sehr schnell geschehen. Die Spitze fuhr bis an den Schaft in die linke Hüfte des Getroffenen, welcher einen Schrei ausstieß und niedersank.
»Nun kommt das "lange Haar" daran!« kündigte ich rasch an, um dem Genannten keine Zeit zur Besinnung zu lassen. Das Experiment wiederholte sich. "Langes Haar" wurde von der Gewalt des Wurfes neben den "starken Arm" hingestreckt. Ich drehte mich um und ging. Hinter mir hörte ich Winnetou rufen:
»So wirft Old Shatterhand die Lanze; jetzt wißt ihr es. Nun mag der "schwarze Biber" mit dem Mimbrenjoknaben kämpfen!«
Mehrere Yumas eilten herbei, um ihren verwundeten Kameraden die Speere aus dem Fleische zu ziehen und sie fortzutragen; die andern heulten nach löblicher Indianersitte; ich aber hatte meine Aufgabe gelöst und legte mich wieder in das Gras. Im Osten begann bereits der Tag zu dämmern.