»Wann ist dies geschehen?«
»Vor zwei Tagen.«
»Schrecklich! Was hast du da ausstehen müssen!«
,»Ja. Allah verfluche sie und stoße sie in den tiefsten Grund der Hölle hinab! Ich habe Qualen ausgestanden, welche nicht zu beschreiben sind, um mich und noch viel, viel mehr um mein Kind. Ich konnte ihm nicht helfen. Es lag vor mir im Sonnenbrande und im Dunkel der
Nacht, ohne daß ich es berühren oder beschützen konnte, weil meine Arme mit eingegraben waren. Und dort lag der Greis, der Gute und Ehrwürdige. Die Geier kamen und zerrissen ihn; ich mußte es sehen; es war entsetzlich. Dann kamen sie zu mir und zu meinem Kinde; ich konnte mich nicht bewegen und vermochte nur, sie durch die Stimme zu verscheuchen. Ich habe mich heiser geschrieen; sie aber merkten nach und nach, daß ich mich nicht verteidigen konnte; sie wurden immer zudringlicher, und wenn du nicht gekommen wärest, hätten sie gewiß noch vor Abend ihre Schnäbel und Krallen in meinen Kopf und in mein armes Kind geschlagen.«
Sie drückte das letztere wieder und wieder an sich und weinte dazu, mehr vor Aufregung, als vor augenblicklichem Schmerz.
»Tröste dich!« bat ich. »Allah hat dich sehr geprüft; nun aber ist dein Leid zu Ende. Wäre der Greis eine Person gewesen, welche deinem Herzen nahe stand, so hättest du noch viel mehr gelitten. Du wirst dich aber von den Qualen, welche du ausgestanden hast, erholen; es lebt dein Kind, und wenn du heimkommst, hast du nichts Liebes verloren und wirst von der Freude und dem Entzücken der Deinen empfangen.«
»Du hast recht, o Herr. Wie aber komme ich heim? Ich habe weder Speise noch Wasser und bin so schwach, daß ich nicht gehen kann.«
»Wirst du dich auf meinem Pferde halten können, wenn ich es dir gebe und nebenher gehe?« »Ich glaube nicht. Zudem habe ich das Kind bei mir.« »Das werde ich tragen.«
»Deine Güte, o Herr, ist so groß, wie mein Leid gewesen ist; aber selbst wenn du mir die kleine Last ababnehmen wolltest, würde ich jetzt noch zu schwach sein, mich im Sattel zu halten.«
»So bleibt nichts anderes übrig, als daß du dich mir anvertraust. Ich nehme dich vor mir auf das Pferd, und indem du deinen Sohn in den Armen trägst, werde ich dich so fest halten, daß du nicht herabgleiten kannst. Iß diese Datteln, die ich glücklicherweise bei mir habe; das wird dich stärken.«
Sie verschlang sie mit Begier und sagte dabei:
»Du weißt, o Herr, daß kein Mann ein fremdes Weib berühren darf, aber da Allah mir die Kraft genommen hat, ohne fremde Hilfe zu gehen oder zu reiten, so wird er mir es auch nicht anrechnen, wenn ich mich in deine Arme lege. Und mein Herr und Gebieter wird es mir ebenso verzeihen.«
»Wo gedenkst du, ihn zu finden?«
»Das weiß ich nicht, da er in den Kampf gezogen ist. Allah möge in demselben sein Leben beschützen! Aber unser Lager, in welchem die Greise, Frauen, Kinder, Kranken und Schwachen zurückgeblieben sind, das weiß ich zu finden. Es liegt am Dschebel Eschuir, den wir morgen erreichen werden. Willst du mich dorthin bringen? Die Unserigen werden dich mit Freude empfangen. Ich bin zwar arm, aber ich heiße Elatheh, und alle haben mich lieb, sodaß sie meinen Retter mit Jubel bewillkommnen werden.«
»Auch wenn er ein Feind von euch ist?«
»Ein Feind? Wie kannst du ein Feind der Uled Ayar sein, du, der du mich von dem schrecklichsten Tode errettet hast!«
»Und doch bin ich es.«
»Das ist ja gar nicht möglich, denn du hast mir gesagt, daß du von weit, sehr weit herkommst. Wie heißt der Stamm, dem du angehörst?«
»Es ist kein Stamm, sondern ein Volk, ein großes Volk von wohl fünfzig Millionen Seelen.«
»O Allah! Wie groß muß da die Oase sein, in welcher diese vielen Menschen wohnen. Wie werden sie genannt?«
»Das Land heißt Belad el Alman; ich bin also ein Almani oder, wenn du das Wort vielleicht gehört haben solltest, ein Nemsi und heiße Kara Ben Nemsi. Mein Vaterland liegt weit über dem Meere drüben.«
»Und da sagst du, daß du ein Feind der Uled Ayar seist?«
»Eigentlich bin ich es nicht, und dennoch bin ich es jetzt. Ein Almani oder Nemsi ist keines Menschen Feind; wir lieben den Frieden und halten Allahs Gebote; aber ich bin gegenwärtig ein Freund und Gefährte derer, welche ihr eure Feinde nennt, der Soldaten des Paschas.«
»Wie?« fragte sie erschrocken. »Du bist ein Gefährte dieser Peiniger, denen wir das Kopfgeld verweigert haben?«
»Ja.«
»So bist du allerdings unser Feind, und ich darf nicht mit dir gehen.« »Willst du hier bleiben und verschmachten?«
»Allah 'l Allah! Du hast recht. Wenn du mich nicht mitnimmst, muß ich mit meinem Kinde hier elend umkommen. Was thue ich!«
»Das, was du vorhin beschlossen hattest; du vertraust dich mir an.« »Aber du wirst mich nicht nach unserm Lager bringen?«
»Das kann ich freilich nicht. Erstens seid ihr beide fast verschmachtet, und ich habe nichts zu essen und auch kein Wasser mehr; wie könntet ihr es bis morgen oder gar übermorgen aushalten! Und zweitens muß ich unbedingt zu den Meinigen zurück. Käme ich nicht, so würden sie um mich in Sorge sein und weit und breit nach mir suchen. Gerade dadurch könnte es zu feindlichen Begegnungen mit den Eurigen kommen, und das ist es, was ich sehr gern vermeiden möchte.«
»So würdest du mich also zu den Soldaten, zu unsern Feinden bringen? Glaubst du wirklich, daß ich da mitgehen werde?«
»Ja. Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon. Willst du lieber umkommen? «
»Du hast recht. Meine Seele ist im Widerstreite; ich weiß nicht, wozu ich mich entschließen soll.«
»Du brauchst dich nicht zu entschließen, denn es steht fest, daß du mit mir reitest. Wenn du es nicht freiwillig thust, werde ich dich zwingen.«
»Allah la jukaddir - Gott verhüte es!« rief sie erschrocken aus. »Willst du ein schwaches Weib zwingen? Willst du ebenso schlimm sein, wie die Uled Ayun gewesen sind?«
»Ja, ich werde dich zwingen, aber ohne so bös wie sie zu sein; ich beabsichtige vielmehr, dir nur Gutes zu thun. Wenn du hier bleibst, bist du verloren; du mußt mit mir fort, und da ich nur zu den Soldaten zurückkehren kann, mußt du mit zu ihnen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten oder gar zu entsetzen. Ich meine es gut mit dir. Ich würde dich nur zwingen, um dich zu retten. Betrachte mich nicht als deinen Feind. Als ich dich in der Erde stecken sah, habe ich mir sofort gesagt, daß du zu den Uled Ayar, also zu meinen jetzigen Gegnern gehörst; dennoch habe ich dich aus der Erde gegraben. Du kannst daran ersehen, daß ich kein gefährlicher Feind bin. Ich bin nur mitgezogen, um vielleicht Blutvergießen zu verhüten und, wenn es möglich ist, Frieden zu stiften. Sieh mich an! Habe ich das Gesicht eines Menschen, vor welchem du dich fürchten mußt?«
»Nein,« antwortete sie lächelnd. »Dein Auge blickt freundlich, und dein Gesicht ist mild und gut. Vor dir fürchte ich mich nicht, desto mehr aber vor den Soldaten.«
»Das ist nicht nötig; sie werden alle freundlich mit dir sein; wir führen nicht mit Frauen Krieg.« »Kannst du ihnen denn befehlen, daß sie mich nicht feindlich behandeln?« »Ja, und sie werden gehorchen.« »So bist du ein Oberer von ihnen?«
»Ein Oberer und Gast, und das gilt, wie du weißt, noch viel mehr.« »Werde ich gefangen sein?«
»Ich verspreche dir, daß du frei sein sollst und alles bekommen wirst, was du brauchst. Ich nehme dich unter meinen ganz besondern Schutz; du wirst stets in meiner Nähe sein, und wer dich antastet, den werde ich streng bestrafen.«