»Aber wenn man uns nun gar nicht hinaus läßt!«
»Pah! Man muß!«
»Sondern Steine vor der Platte draußen aufhäuft!«
»Dazu gehört Zeit. Wir drei sind stark; ein Augenblick genügt, die Platte umzuwerfen - - horch!«
Draußen war ein lauter, schriller Schrei erklungen, jener Schrei, welchen der Indianer ausstößt, wenn er die Seinen auf eine Gefahr aufmerksam machen will.
»War das der Häuptling? Sieh hinaus, Charley, schnell, schnell!«
Während unsers Gespräches, so kurz dasselbe gewesen war, hatte die Helle des Morgens so zugenommen, daß ich, als ich das Auge nun wieder an die Lücke legte, bis an das Wasser sehen konnte. Der ganze Lagerplatz und die Umgebung desselben lag vor meinem Blick. Ja, der Häuptling hatte den Schrei ausgestoßen. Er stand vor dem Felseneinschnitte, in welchem wir gesteckt hatten, und sah die beiden Wächter gefesselt und geknebelt in demselben liegen. Sein Schrei hatte die andern Roten erweckt; sie waren aufgesprungen und eilten zu ihm hin.
Zunächst entstand ein kurzer Wirrwarr von sich durcheinander drängenden Menschen und Stimmen; dann wurde es still. Der Häuptling ließ die von uns Ueberrumpelten von ihren Fesseln und Knebeln befreien und befragte sie. Ich sah sie vor ihm stehen; wir hatten sie also nicht getötet. Dann erhob sich wieder ein Geheul. Die Roten richteten ihre Blicke rings umher; sie sahen nichts von uns; wir mußten also aus dem Thale sein. Der Häuptling rief ihnen laute Befehle zu. Sie bewaffneten sich, eilten zu den Pferden, stiegen auf und ritten fort, den steilen, schmalen Weg hinauf, den wir heruntergekommen waren. Ich sah einen nach dem andern da oben verschwinden.
Aber nicht alle verließen das Thal. Drei blieben zurück, nämlich der Häuptling und die beiden Wächter, ob die letzteren zur Strafe, oder weil sie sich nicht so schnell hatten erholen können, das wußte ich nicht. Der erstere setzte sich wieder dort nieder, wo er während der
Nacht gesessen hatte; sie aber standen in einiger Entfernung von ihm. Er war natürlich zornig über sie, und sie wagten sich nicht an ihn heran.
»Wenn die Roten nur eine Spur von Klugheit besitzen, werden sie augenblicklich wiederkommen!« meinte
Emery.
»Wieso?« fragte ich.
»Wenn sie hinauf auf die Ebene kommen und uns nicht sehen, müssen sie sich doch sagen, daß wir noch im Thale sein müssen!«
»Nein. Sie werden annehmen, daß wir Zeit genug gehabt haben, soweit zu kommen, daß wir nicht mehr gesehen werden können. Sie werden nach Spuren suchen und keine finden. Infolgedessen wissen sie nicht, in welcher Richtung wir geflohen sind, und werden sich also in mehrere Abteilungen trennen, um uns nach verschiedenen Gegenden zu verfolgen. Ich bin jetzt überzeugt, daß unser Plan gelingen wird.«
Wir warteten. Nach vielleicht einer Viertelstunde kam einer der Reiter zurück und machte dem Häuptlinge eine Meldung. Dieser stand auf und bestieg sein Pferd; er befahl den beiden Wächtern, dasselbe zu thun, und ritt mit ihnen und dem Boten fort, unsere Gewehre und andere Sachen am Wasser liegen lassend. Ich sah sie hinter dem Felsen, da wo der Pfad mündete, verschwinden und bald darauf weiter oben wieder erscheinen.
»Es gelingt!« jubelte ich. »Es gelingt viel besser, als ich erwarten konnte. Der Häuptling ist geholt worden und hat auch die Wächter mitgenommen. Unsere Sachen liegen alle dort, und unsere Pferde stehen auch da!«
»Dann hinaus, hinaus, schnell, schnell!« rief Emery.
Er wollte in seinem Eifer aufspringen und stieß mit dem Kopfe gegen den niedrigen Felsen, daß er mit einem Wehelaute wieder zurücksank.
»Noch nicht,« antwortete ich. »Wir müssen warten, bis sie oben angekommen sind und nicht mehr heruntersehen können.«
Nach kurzer Zeit war das geschehen. Wir stießen die Platte nach außen, daß sie umfiel. Wir traten hinaus; wir waren frei! Emery wollte sogleich hin zu unsern Gewehren, doch Winnetou warnte:
»Mein Bruder mag sich nicht übereilen! Erst wollen wir den Stein wieder vor das Grab legen. Der Häuptling kehrt jedenfalls zurück. Er würde, wenn er von oben herunterblickt, das Grab offen sehen und sofort seine Krieger rufen.«
»Was schadet das! Wir haben sie nun nicht mehr zu fürchten!«
»Doch noch. Wir müssen auch hinauf. Es giebt nur den einen Pfad, und wenn sie ihn besetzen, können wir nicht fort.«
»So schießen wir sie nieder!«
»Wenn sie sich hinter den Felsenecken verbergen, können wir sie nicht treffen, während aber ihre Kugeln uns erreichen.«
Wir haben also mit vereinten Kräften den schweren Stein auf und lehnten ihn wieder an die Spalte; dann eilten wir an das Wasser, um unsere Sachen schnell an uns zu nehmen. Es fehlte nichts von allem, was man uns abgenommen hatte. Welche Wonne, als ich meine beiden Gewehre wieder hatte, und dazu die ganze Munition!
»Nun aber fort!« rief Emery, indem er sich anschickte, zu den Pferden zu gehen.
»Noch nicht!« sagte ich. »Wir müssen erst wissen, wie es da oben auf der Ebene steht.«
»Das ist doch nicht notwendig! Die Roten können uns nichts anhaben! Kein Indsman darf es wagen, uns nahe zu kommen, da wir unsere Gewehre haben.«
»Sobald wir uns im Freien befinden, ja. Jetzt aber stecken wir noch in diesem tiefen Thalkessel und wissen nicht, ob wir zu Pferde hinaufkommen können, ohne bemerkt zu werden. Wir müssen erst hinaufsteigen, um zu rekognoszieren.«
»Uebertriebene Vorsicht! Ich halte das für ganz unnötig, will mich aber fügen.«
Wir stiegen also den steilen Weg hinauf. Da der Häuptling jeden Augenblick zurückkehren konnte, vielleicht nicht allein, sondern in Begleitung von noch andern Roten, so nahmen wir den Gang möglichst vorsichtig vor. Wir eilten über offene Stellen so schnell wie möglich hinweg und blieben, wenn wir Deckung hatten, halten, um vorwärts zu lauschen, ob die Schritte eines Menschen oder Pferdes zu hören seien. Und das war gut! Denn eben befanden wir uns an einer neuen Krümmung des Weges und horchten um die Ecke, als wir Hufschlag hörten. Winnetou war voran. Er blickte vorsichtig um den Felsen und wendete sich dann zu uns zurück, um leise zu sagen:
»Der Häuptling kommt.«
»Allein?«
»Ja.«
Das Geräusch der Huftritte schwieg. Der Komantsche hielt an und sah in das Thal hinab. Hätten wir den Stein nicht wieder vor das Grab gelegt gehabt, so wäre ihm das unbedingt aufgefallen und er hätte sich sofort sagen müssen, daß wir noch unten im Thale seien. So aber schöpfte er keinen Verdacht und ritt weiter.
»Was thun?« fragte Emery.
»Ihn festnehmen,« antwortete ich. »Aber nicht hier. Der Ort paßt nicht dazu, und ein Hilferuf von ihm würde von seinen Leuten gehört werden. Kommt schnell wieder hinab!«
Wir kehrten um und rannten zurück. Unten angekommen, blieben wir da, wo der Weg ins Thal mündete, halten. Da lag ein großes Felsstück, hinter welchem sich ein Mann verstecken konnte. Winnetou kauerte sich dort nieder und sagte:
»Meine Brüder mögen vollends um die Ecke gehen, damit er sie nicht sieht. Ich lasse ihn vorüber, springe dann hinter ihm auf das Pferd und nehme ihn fest. Darauf mögen meine Brüder von vorn auf ihn eindringen.«
Emery und ich gingen die zwanzig Schritte weiter, die wir noch bis zur Einmündung des Weges zu machen hatten, und postierten uns dort hinter die Ecke. Kurze Zeit später hörten wir den Häuptling kommen. Wir lauschten dem Hufschlage seines Pferdes. Jetzt mußte er beim Verstecke des Apatschen sein - jetzt an demselben vorüber - da blieb das Pferd stehen; ein unterdrückter Schrei ließ sich hören. Wir sprangen hinter der Ecke hervor. Da hielt das Pferd auf dem Wege; Winnetou kniete auf demselben hinter dem Komantschen und hatte ihn mit beiden Händen am Halse fest. Wir sprangen hinzu und zogen den vor Schreck ganz bewegungslosen Roten vom Pferde herunter, entwaffneten ihn und banden ihm mit seinem eigenen Lasso die Arme fest an den Leib. Darauf brachten wir ihn nach einer Stelle, wo wir mit ihm nicht von oben gesehen werden konnten, zogen ihn da nieder und banden ihm auch die Beine zusammen, so daß er nun wie ein Kind im Wickel vor uns lag.