»Und doch entfernten sie sich nicht? Man sollte meinen, sie hätten sich darauf gleich aus dem Staube gemacht.«
»Ist ihnen nicht eingefallen. Ich war allein und hatte kein Gewehr bei mir; das wußten sie; es war also sehr leicht, mit mir anzubinden. Sie brauchten mich ja nur von weitem niederzuschießen; meine Revolver konnten mir in die Ferne nichts nützen. Und wie pfiffig haben sie es angefangen!«
»Pfiffig? Ich meine im Gegenteile, daß sie nicht dümmer handeln konnten.«
»O nein. Es war wirklich pfiffig, daß sie sich nicht am Flusse versteckten. Ich war ja gewarnt und wußte, daß sie dort standen. Darum war anzunehmen, daß ich den Rückweg über das Feld einschlagen würde. Das hatte ich mir auch wirklich vorgenommen. Sie legten sich also ins Feld auf die Lauer, und zwar nicht allzu weit vom Flusse weg, um mich auch dann treffen zu können, falls ich den dortigen Weg einschlagen sollte. Da kamt ihr, und sie erkannten euch.«
»Auch mich?«
»Natürlich. Winnetou ist nicht zu verkennen, selbst dann nicht, wenn es nicht so hell ist, wie heute abend. Sie hatten mich gesehen; sie sahen Winnetou und wußten nun auch, wer du bist. Ihr waret ihnen ebenso gefährlich, wie ich es bin; darum schossen sie auf euch. Wir müssen Gott danken, daß ihnen der Anschlag nicht gelungen ist.«
»Allerdings. Eigentlich war es nur auf dich abgesehen, dann aber standen wir näher dem Tode als du, denn als die Kugeln um uns pfiffen, befandest du dich hier in vortrefflicher Sicherheit. Wie sie aber nur auf den Gedanken gekommen sind, ihre Pferde bereit zu halten?«
»Weil sie mich im Konzerte gesehen haben. Vielleicht haben sie dann auch, ehe sie gingen, Winnetou bemerkt. Sie sagten sich, daß wir sie suchen würden, und waren auf ihre Flucht bedacht. Als sie mir bis hierher gefolgt waren, holten sie oder einer von ihnen ihre Pferde und hielten dieselben bereit, um, sobald die tödlichen Schüsse auf mich gefallen seien, ihres Weges zu reiten.«
»Wohin?«
»Wahrscheinlich in ganz derselben Richtung, welche Jonathan eingeschlagen hat. Sie haben sich doch jeden- jedenfalls vor ihrer Trennung in New-Orleans mit ihm darüber besprochen.«
»Aber wie sie bis hierher anders geritten sind, als er, so können sie sich auch jetzt in gleicher Weise verhalten!«
Da bemerkte Winnetou:
»Das Schloß der weißen Squaw, wohin sie wollen, liegt, wie wir wissen, zwischen dem kleinen Colorado und der Sierra Blanca. Dorthin giebt es nur einen guten Weg, wie jeder weiß, der einmal in jener Gegend gewesen ist; dies ist der Weg, den das Bleichgesicht Jonathan einschlägt. Warum sollen sein Vater und sein Oheim einen weitern und schlechtern Weg einschlagen?« »Das denke auch ich,« stimmte ich bei. »Die alten Meltons sind sehr erfahrene Bösewichter; die geben sich gewiß nicht mit großen Beschwerden ab, wenn das nicht unbedingt notwendig ist. Ich bin vollständig überzeugt, daß sie auch über Acoma reiten. Morgen, sobald es Tag geworden ist, folgen wir ihnen auf demselben Wege.«
»Und ich reite mit!« rief Franz Vogel begeistert aus.
»Sie?« lachte ich. »Wollen Sie in der wilden Sierra Blanca Konzerte geigen?«
»Ja. Es verlangt mich, diesen Meltons eine Melodie vorzugeigen, an welcher sie genug haben sollen!«
»Das überlassen Sie am besten uns, lieber Freund. Sie sind ein sehr tüchtiger Musiker, aber Ihre Noten stehen nicht da draußen in den Kanons des Colorado. Wir reiten den Meltons nach, um ihnen ihren Raub abzujagen; dabei können Sie uns gar nichts nützen. Wir werden nicht lange fort sein. Gehen sie inzwischen nach Santa F&, um einige Konzerte zu geben; wir suchen Sie dort auf und legen Ihnen Ihre Millionen in den Schoß.«
»Nein, nein! Sie wollen den Spitzbuben, den Mördern nach, um mich reich zu machen, und ich soll inzwischen Konzerte geben? Ich wäre nicht im stande, einen Bogenstrich zu thun! Thun Sie mir nicht das Zuleide, daß Sie mich hier sitzen lassen! Ich müßte ja gar keine Ehre im Leibe haben, wenn ich darauf eingehen wollte!«
Er hatte eigentlich recht. Wir sollten uns für ihn in Gefahr begeben; es war nicht mehr als billig, daß er an ihr teilnahm. Das mochte auch Emery denken, denn er fragte ihn:
»Können Sie denn leidlich reiten?«
»Nicht nur leidlich. Das lernt man hier zu Lande bald.«
»Und mit Waffen umgehen?«
»Ein Meisterschütze bin ich freilich nicht; aber geschossen habe ich doch schon zuweilen, und wenn ich bis auf drei Schritte an den Kerl herangehe, den ich treffen will, schieße ich gewiß nicht an ihm vorbei. Sie sehen, daß ich entschlossen bin, mich auf alle Fälle zu beteiligen. Also ist es am besten, Sie nehmen mich mit sich.«
»Hm! Was meinst du, Charley? Er ist nicht übel couragiert!«
Ich zuckte die Achsel, sprach aber nicht dagegen. Es giebt auch eine Courage, welche ihren Grund in der Unkenntnis der Verhältnisse und Gefahren hat, denen man entgegengeht. Eine Fliege summt dreist in das Lampenlicht, weil sie nicht weiß, daß sie in der Flamme umkommen wird.
Jetzt begann auch Martha zu bitten, ihren Bruder doch mitzunehmen. Sie hatte mein Achselzucken bemerkt und wendete sich an Emery. Der ritterliche Englishman war eigentlich ein wenig Damenherr; er konnte den
Bitten der schönen, jungen Sängerin nicht widerstehen und fragte mich schließlich:
»Hast du etwa großartige Gründe dagegen, Charley?«
»Nein. Sprich mit Winnetou darüber; er mag entscheiden.«
Wenn ich Winnetou sprechend hier aufgeführt habe, so muß ich bemerken, daß wir ihm das Vorhergehende immer übersetzen mußten. Wir sprachen ja deutsch. Als Emery ihm die Angelegenheit vorgetragen hatte, erklärte er:
»Winnetou würde ganz dagegen sein, denn der junge Mann wird uns mehr stören und schaden, anstatt nützen können; aber ihm soll der Raub gehören, den die Diebe bei sich haben, und so dürfen wir ihm seinen Wunsch nicht abschlagen. Er mag aber ja nicht denken, daß es ein Vergnügen ist, mit uns zu reiten. Wir werden volle acht Tage im Sattel sitzen müssen, um an das Ziel zu gelangen.
»Ich werde das gern aushalten!« versprach Vogel in englischer Sprache.
»Wenn mein junger Bruder sich bis zum Anbruch des Tages hier ein gutes Pferd mit Sattel und Zaum kaufen kann, dazu ein Gewehr mit Munition, so wird er mit uns reiten' können, sonst aber nicht, denn wir haben keine Zeit, auf ihn zu warten.«
Da nahm mich Vogel beim Arm und bat:
»Helfen Sie mir, bester Herr Doktor! Pferde giebt es hier, Gewehre und Munition auch, wenn auch zu hohen Preisen. Die meisten Stores sind noch offen. Wollen Sie?«
»Gern. Wir können damit bald fertig sein, und haben dann noch einige Stunden für den Schlaf.« Da geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte. Nämlich Martha fragte mich: »Meinen Sie, daß die Jüdin mit Jonathan Melton glücklich dort ankommen wird?« »Wahrscheinlich.«
»Dann bitte, kaufen Sie zwei Pferde und einen Damensattel!«
»Verstehe ich Sie recht? Sie wollen ein Pferd für sich?«
»Ja, ich reite mit Ihnen.«
»Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!«
»Gewiß nicht! Die Jüdin bringt dasselbe fertig.«
»Die sitzt im Wagen- Das ist etwas anderes.«
Sie ließ sich aber von mir nicht zurückweisen; Emery mußte innerlich über ihren Wunsch lachen, blieb aber äußerlich ernst und höflich; er wollte nicht Nein sagen, und so wiesen wir sie an Winnetou, indem wir überzeugt waren, daß es ihm besser als uns gelingen werde, ihr ihre Bitte abzuschlagen, ohne sie dadurch zu beleidigen. Und das gelang ihm auch.