»Wir müssen leise sprechen, denn ich bin heimlich gekommen, weil ich nicht haben will, daß dir etwas Böses geschehe.«
»Von wem?«
»Von den beiden Weißen, welche heute bei uns angekommen sind.«
»Ah, ihr habt sie also gesehen! Wann ist das gewesen?«
»Drei Stunden vorher, ehe ihr kamt.«
»Wie lange haben sie sich hier bei euch aufgehalten?«
Da trat sie ganz an mich heran und sagte noch leiser als bisher:
»Sie sind noch hier!«
»Noch hier? Das ist für uns eine sehr wichtige Botschaft, für welche ich dir großen Dank schuldig bin.«
»Du bist mir keinen Dank schuldig, sondern ich will dir danken, indem ich dir dies sage. Die beiden Männer sprachen von euch; sie benachrichtigten uns, daß ihr hinter ihnen kommen würdet.«
»Und forderten euch auf, uns feindlich zu behandeln?«
»Ja. Sie sagten uns, daß ihr unsere Estufa zerstören und die Figuren der Götter vernichten wollet.« »Das fällt uns ja gar nicht ein! Was sagten sie noch von uns?«
»Daß ihr gefährliche Männer seid, die schon viele Mordthaten begangen haben, und Diebe, welche gekommen sind, uns auszurauben.«
»Das ist eine ungeheure Lüge! Ich sage dir, daß es umgekehrt ist. Die beiden Männer sind Räuber und Diebe, welche schon manchen Mord und viele Unthaten auf dem Gewissen haben. Darum jagen wir hinter ihnen her, um sie zu fangen und bestrafen zu lassen. Wir sind ehrliche Leute.«
»Ich glaube es, Sennor. Du siehst nicht aus wie ein so böser Mann und bist freundlich mit uns gewesen. Darum habe ich mich fortgeschlichen, um dich zu retten.«
»Zu retten?« Danach müssen wir in einer Gefahr schweben?«
»Ja, ihr befindet euch in Gefahr. Inwiefern, das weiß ich nicht genau; aber die beiden Männer sind noch hier.«
»Ah! Wo? Kannst du mir das sagen?«
»Ich könnte es sagen, aber ich darf nicht, weil ich nicht zur Verräterin an meinen Leuten werden will.«
»Gut, so will ich dich nicht danach fragen; aber sagen darfst du mir wohl, worin die Gefahr besteht, welche uns von den Leuten droht?«
»Der Tod, glaube ich. Was wirklich geschehen soll, das wissen nur wenige Männer von uns; den Frauen und Kindern aber ist gar nichts verraten worden. Aber diese Verschwiegenheit läßt mich vermuten, daß man gegen euch nichts Geringes und nichts Gewöhnliches im Sinne hat.«
Mit diesen Worten huschte sie eiligst fort, so daß ich ihr nicht einmal Dank sagen konnte. Ich erfuhr hier wieder einmal, wie schnell sich oft das Gute ganz von selbst belohnt. Wir waren zwar mißtrauisch, keineswegs aber um unser Leben besorgt gewesen. Das Mädchen hatte uns wahrscheinlich vom Tode errettet.
»Meine Gefährten waren nicht wenig erstaunt, als ich ihnen sagte, was ich erfahren hatte. Emery wollte sofort nach dem Pueblo, um die Bewohner desselben zur Rechenschaft zu ziehen; Winnetou aber entgegnete ihm:
»Mein Bruder mag nicht zu schnell handeln. Die roten Leute haben die Lügen geglaubt, welche man ihnen gesagt hat. Wollen wir sie deshalb töten?«
»Sie verdienen es, weil sie uns auch an das Leben wollen!« antwortete der Englishman. »Das wissen wir nicht gewiß. Uebrigens sind ihrer viele, und wir sind nur vier.« »Ich fürchte mich nicht vor ihnen!«
»Mein Bruder wird gewiß nicht glauben, daß Winnetou sich fürchtet; aber vier Personen können kein Pueblo angreifen, sie mögen noch so tapfer sein, wenigstens nicht offen.«
»Aber wir können doch die Leute zwingen, uns die Meltons auszuliefern!«
»Zwingen? Also Kampf mit ihnen? Das ist's ja eben, was wir verhüten müssen. Wenn wir sie angriffen, würden die Meltons ihnen helfen oder die Zeit des Kampfes zur Flucht benutzen. Wir können das, was mein Bruder haben will, nur durch List erreichen. Wir warten, bis sie kommen. Sie wissen wahrscheinlich, wo wir uns jetzt befinden; darum werden wir eine andere Stelle aufsuchen, an welcher wir in der Nacht bleiben. Man wird uns suchen. Jedenfalls haben wir dies von den Meltons zu erwarten, welche wir festnehmen, sobald sie kommen.«
Er hatte recht, und wir handelten nach seinem Vorschlage, indem wir unsern Lagerplatz in noch größere Entfernung verlegten. Nun, da wir gewarnt waren, konnten wir uns nur darüber freuen, daß die Meltons hier geblieben waren. Wir brauchten sie nicht erst einzuholen. Wir hatten sie hier, und es bedurfte keiner großen Selbstüberschätzung, um unsererseits sagen zu können, daß sie in unsere Hände fallen würden.
Wir richteten uns auf die Weise ein, daß zwei von uns schliefen, während die beiden andern wachten, und wechselten darin ab. Ich hatte mit Vogel zu wachen. Als wir Winnetou zum zweitenmale ablösten, war die Nacht schon fast vergangen, ohne daß wir irgend etwas Verdächtiges bemerkt hatten; das mußte uns auffallen.
»Wer weiß, ob man überhaupt etwas gegen uns vorgehabt hat,« meinte Emery. »Das Mädchen kann sich geirrt haben!«
»Schwerlich!« antwortete ich. »Aber es kommt ja niemand!«
»Weil man uns nicht gefunden hat, und wohl auch weil die Roten eingesehen haben, daß es gefährlich ist, sich uns zu nähern.«
»So müssen wir warten, bis es Tag geworden ist; dann aber bestehe ich darauf, die Pueblos zu zwingen, uns die Meltons auszuliefern.«
»Sie würden das nicht können, weil die Meltons dann nicht mehr da sein werden. Wenn es sich herausstellt, daß bis zum Anbruche des neuen Tages nichts gegen uns unternommen werden kann, werden sie keinen Augenblick zögern, sich aus dem Staube zu machen.«
»Das möchte ich nicht als so sicher hinstellen. Ebenso wahrscheinlich ist es, daß sie bleiben. Sie werden von den Pueblos unterstützt.«
»Das wäre die größte Dummheit, welche sie begehen könnten. Blieben sie hier, etwa um uns mit Hilfe der Pueblos anzugreifen, so wären sie sicher, in unsere Hände zu geraten oder von unsern Kugeln zu fallen. Die Halunken sind schlau genug, dies zu wissen. Auch kennen sie die Pueblo-Indianer jedenfalls gut genug, um sich sagen zu können, daß diese sich nicht sehr nahe an uns wagen werden, weil unsere Gewehre weitertragen, als alle ihre Waffen. Ich bin überzeugt, daß sie fortgehen.«
»So haben wir das Nachsehen!«
»Allerdings. Aber dem könnte ja wohl vorgebeugt werden, indem wir unsern Standort abermals verlassen und uns westlich vom Pueblo lagern. Das ist die Richtung, welche sie einzuschlagen haben. Vielleicht hören wir sie, falls sie nicht allzu weit an uns vorüberreiten.«
Auch Winnetou war der Ansicht, und so veränderten wir zum zweitenmale unsern Lagerplatz. Als das geschehen war, setzte ich mich mit Vogel nicht etwa zu den beiden andern, welche sich wieder schlafen gelegt hatten, sondern wir trennten uns, indem wir uns ein Stück von ihnen entfernten, ich rechts und Vogel links von ihnen. Dadurch, daß wir uns so weit auseinander befanden, lag für unser Gehör eine viel größere Strecke offen, als wenn wir zusammen geblieben wären. Um noch besser und weiter hören zu können, legte
ich mich mit einem Ohre auf die Erde.
So warteten wir still und unbeweglich eine lange Zeit, bis es ungefähr drei Viertelstunden vor Tagesanbruch sein mochte. Da vernahm ich ein Geräusch. Es erklang aus der Gegend her, in welcher Vogel lag, und wenn ich mich nicht täuschte, so war es der Hufschlag zweier Pferde, welche von dem Pueblo herkamen und dann in die Ebene hinausliefen. ich stand auf, ging zu Vogel und fragte:
»Haben Sie nicht etwas gehört?«
»Ja, Schritte von Menschen.«
»Wie viele können es gewesen sein?«
»Wer kann mit den Ohren zählen! Es waren viele. Sie kamen vom Pueblo her und dann an uns vorüber, aber weit von hier.«