Er schloß die Augen, um den ungeheuerlichen Gedanken auszudenken; dann öffnete er sie wieder und ein wilder Grimm ging über sein noch immer diabolisch schönes Gesicht, als er zähneknirschend hervorstieß:
»Gott verdamme ihn, den Mörder, den Judas Ischariot! Er hat mich Euch ausgeliefert!«
»Das würde das Geringste noch sein. Wahrscheinlich hat er Euch nicht nur uns, sondern auch dem Tode ausgeliefert. Macht Eure Rechnung mit dem Leben!«
»Wo - ist er?«
»Fort, auf Eurem Pferde.«
»Ja, ja, jetzt weiß ich es. Sein Pferd stürzte, und ich stieg ab, ihm zu helfen. Er wollte dann auf dem meinigen fort; wir stritten uns, und ich stieg auf. Mehr weiß ich nicht.«
Er hatte das natürlich nicht hintereinander, sondern nur mit Unterbrechungen sagen können. Ich berichtigte ihn:
»Ihr seid nicht aufgestiegen; er hinderte Euch daran, indem er Euch mit dem Gewehrkolben niederschlug. Dann sahen wir, daß er sich auf Euch niederbückte; da hat er Euch das Messer in die Brust gestoßen.«
»Niederbückte?« fragte er und fügte dann schnell hinzu: »Wo ist mein Rock?« »Da liegt er.« »Gebt her, gebt her!«
Ich gab ihm denselben hin, der auch blutig war.
Er suchte mit zitternden Händen nach der Brusttasche. Es war nichts drin.
»Leer!« stöhnte er. »Leer! Er hat sie genommen!«
»Was?«
»Die Brieftasche mit dem Gelde! 0 der Judas, der Judas! Und ich bin sein Bruder!« »Wem gehörte das Geld?« »Mir, mir!«
»Aber es war gestohlenes, geraubtes?«
Er schwieg, und erst als ich meine Frage noch zweimal wiederholt hatte, antwortete er: »Das geht euch den Teufel an, ihr, ihr -!«
Er sah sein Messer, welches wir ihm aus dem Gürtel gezogen hatten, neben sich liegen, griff nach demselben und zückte es gegen mich. Es bedurfte trotz seiner Verwundung keiner kleinen Anstrengung, es ihm aus der Hand zu winden.
»Gebt Euch keine Mühe, uns von Eurer Gesinnung zu überzeugen,« sagte ich ihm; »wir kennen sie, auch ohne daß Ihr Euch vergeblich mit dem Messer bemüht.«
Das kurze Ringen mit mir hatte ihn angestrengt; das Blut floß stärker aus der Wunde; er schloß die Augen. Während ich mich bemühte, die Blutung zu stillen, sprach er wie abwesend, langsam, in Pausen und mit leiser Stimme:
»Gefangen - ergriffen! Winnetou - Shatterhand, die Hunde! - Beraubt - erstochen - von Thomas -verdammter Judas - verdammter Ischariot! O Rache, Rache - Rache!«
Er schien sich in einem halbwachen Zustande zu befinden, was ich benutzte, um vielleicht etwas zu erfahren, indem ich sagte:
»Er hat Euch Euern Anteil an Hunters Geld genommen, der Schurke!« »Ja - Hunters Geld!« nickte er, ohne die Augen zu öffnen. »Und er hatte doch ebensoviel!«
»Ja, gerade soviel!«
»Das übrige hat alles Jonathan!«
»Jonathan - - alles! Rache - - Rache!«
»Die wird ihm werden! Wir reiten ihm nach bis - -«
Ich wartete mit Spannung, was er sagen würde.
»Bis an den Flujo blanco - Whitefork -« hauchte er.
»Wo die Jüdin ihr Schloß hat?«
»Ihr Schloß - - ihr Pueblo.«
Dann riß er plötzlich die Augen auf, starrte mir ins Gesicht und schrie mich an:
»Wer bist du?«
»Ihr kennt mich doch!«
»Ja, ich - kenne Euch. Old Shatterhand - - Winnetou, die beiden Teufel - Teufel - Teufel! Was fragst du mich? Laßt mich in Ruh!«
»Ich denke, wir sollen Euch an Eurem Bruder rächen?«
»Rächen -! Ja - ja - ja! Jagt ihm nach - schießt ihn nieder -nehmt ihm das Geld, und bringt - -« Dann ballte er plötzlich beide Fäuste und fuhr fort:
»Nein, nein - ich sage nichts, gar nichts! Mag Thomas kommen! Ihr seid - seid - Ihr erfahrt nichts - nichts -nichts von mir! Geht in die Hölle - Hölle - Hölle!«
Er sank hintenüber und war still. Das Blut floß reichlicher; da er sich aber nicht mehr bewegte, gelang es uns, es abermals zu stillen. Er fiel in Schlaf.
Winnetou war bisher still gewesen; er ließ sein Auge forschend auf dem Gesichte des Schlafenden ruhen und sagte dann:
»Er wird diesen Ort hier nicht wieder verlassen.« »Dann wollen wir hoffen, daß er noch bereut, ehe er stirbt!«
»Möchte es bald zu Ende sein, damit wir aufbrechen können, um seinen Bruder zu verfolgen. Du hast Mitleid mit ihm?«
»Ja.«
»Er verdient es nicht. Er war schlimmer als ein Tier. Weit mehr Mitleid verdient das Pferd hier, welches nie gesündigt hat. Winnetou wird seinen Schmerzen ein Ende machen.«
Das Pferd mühte sich, vor Schmerz schnaubend, noch immer vergeblich ab, sich aufzurichten. Der Apatsche hielt ihm die Mündung seiner Silberbüchse an den Kopf, und gab ihm die erlösende Kugel. Als der Schuß krachte, fuhr Melton mit dem Oberkörper empor, blickte erschrocken und mit weitaufgerissenen Augen umher und fragte:
»Wer hat geschossen? Galt das dem - dem - -«
Ohne die Frage ganz auszusprechen, sank er wieder nieder und blieb nun stundenlang so liegen. Zuweilen flüsterte er etwas, was wir nicht verstehen konnten. Diese äußerliche Ruhe schien Schlaf zu sein, war es aber nicht. Seine Seele war wach; das sahen wir an den verschiedensten Ausdrücken, welche unaufhörlich über sein Gesicht glitten.
»Jetzt wissen wir genau, wo das "Schloß" der Jüdin liegt,« bemerkte ich zu Winnetou. »Ja, am Flujo blanco; er hat es verraten.« »Kennt mein Bruder diesen Fluß?«
»Ich war nicht dort, aber in der Nähe und werde ihn sehr leicht finden. Er kommt von der Sierra Blanca herab und wird von den Yankees White-Fork genannt.«
Um die Mittagszeit kam Emery mit Vogel nach. Als der Abend angebrochen war, kam das Ende. Melton sprang mit einem Male auf, stieß den Namen seines Bruders mit Verwünschungen aus, welche man unmöglich niederschreiben kann, und fiel dann tot zu Boden. Sein Ende war schmerzloser, als er es verdient hatte; leider aber hatte für seine Seele nichts geschehen können. Am nächsten Morgen begruben wir ihn unter Steinen, die seinen Körper vor den Schnäbeln und Fängen der Geier schützten. Dann verließen wir den traurigen Ort. -
Viertes Kapitel.
Im Pueblo.
Es wäre unnütz und auch Zeitverschwendung gewesen, wenn wir jetzt noch den Spuren Thomas Meltons hätten folgen wollen. Es stand fest, daß er sich jetzt auf dem kürzesten Wege zu seinem Sohne befand, darum wendeten wir uns südwestlich, um den Umweg, welchen wir gestern hatten machen müssen, einzuholen. Diese Richtung führte uns zwischen der Sierra Madre und den Zunibergen hindurch.
Sonderbar! Als wir die Berge hinter uns hatten, gab es sofort eine ganz andere Witterung als bisher. Der ewig heitere Himmel umzog sich täglich einigemale mit schweren, dunklen Wolken, und sandte einen heftigen Gewitterregen herab, um sich schnell wieder aufzuklären. Wir befanden uns im Quellgebiete des kleinen Colorado, in welcher Gegend um diese Jahreszeit solche heftige Regen mit heiterem Himmel täglich wiederholt abwechseln. Dies war uns in einer Beziehung lieb, in der andern aber nicht. Die Feuchtigkeit lockte ein lebhaftes Grün hervor; es gab überall Wasser und genug Futter für die Pferde; aber unsere Kleider wurden Tag und Nacht nicht trocken, und ein solcher Zustand konnte so plötzlich nach der großen Hitze, welche wir hinter uns hatten, für unsere Gesundheit gefährlich werden. Wir waren, Vogel natürlich ausgenommen, gewohnt, bei größter Hitze oder Kälte im Freien zu kampieren; jetzt aber wäre uns ein trockenes Obdach des Abends recht willkommen gewesen.
Gegen Abend des dritten Tages nach dem Tode Harry Meltons erklärte uns Winnetou, daß wir morgen in der Nähe des Flujo blanco ankommen würden. Es regnete heftig; das war kein Regen mehr, sondern ein herabstürzender See, welcher einen beinahe vorn Pferde herunterschlug. Es that mir nur leid um den armen Franz Vogel, welcher so etwas nicht gewohnt war und die Unbilden dieses Wetters doch mit möglichster Ergebung zu tragen versuchte.