Sie schaute wieder auf die Uhr. Er wird schon kommen, sagte sie sich. Er ist bisher immer pünktlich gewesen. Aber wieso hat er mich gerade hierher bestellt? Nur wir beide. Sie verspürte einen Anflug nervöser Erregung. Nur wir beide. Vielleicht empfindet er das für mich, was ich auch für ihn empfinde. Vielleicht nur ein bisschen, aber…
»Da sind Sie ja schon.«
Sie wirbelte herum und richtete den Blick auf Eberly, der über den rutschsicheren Bodenbelag des Dachbodens langsam auf sie zukam. Er ist wirklich stattlich, sagte sie sich. So voller Energie. Aber er solle sich besser kleiden, sagte Holly sich beim Anblick der labbrigen grauen Hose und des noch dunkleren formlosen Gewandes, das ihm eine Nummer oder so zu groß um die Schultern hing.
»Ich wollte mich einmal außerhalb des Büros mit Ihnen unterhalten«, sagte er und blieb eine Armlänge von ihr entfernt stehen.
»Sicher, Malcom.« Sie musste sich mit einer bewussten Anstrengung davon abhalten, nervös die Hände zu kneten. »Es gibt dort unten zu viele Zuhörer«, fuhr fort, »und was ich zu sagen habe, ist nur für Sie bestimmt.«
»Worum geht es denn?«, fragte sie zitternd.
Er schaute über die Schulter, als rechnete er damit, dass sich jemand hinter ihm versteckt hatte.
Dann drehte er sich wieder zu Holly um und sagte: »Ihren Berichten entnehme ich, dass Sie bereit sind, die Wettbewerbe für die Namensgebung zu starten.«
Es ist dienstlich, stellte Holly desillusioniert fest. Er will nur über dienstliche Belange reden.
»Sie sind doch so weit, nicht wahr?«, fragte er, ohne ihre plötzliche Niedergeschlagenheit überhaupt zu bemerken.
»Ja«, entgegnete sie und sagte sich zugleich, alles rein dienstlich. Ich bedeute ihm überhaupt nichts.
»Sie haben die Regeln für die Wettbewerbe vollständig ausgearbeitet?«
Holly nickte. »Es war eigentlich ganz einfach. Und ich glaube, dass die Komitees für die Auswertung der einzelnen Wettbewerbe durchs Losverfahren bestimmt werden sollten. Das dürfte wohl die beste Methode sein.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Eberly. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«
»Danke, Malcolm«, sagte sie verdrießlich.
»Ich werde noch Wilmots Genehmigung einholen müssen, und dann können wir die Wettbewerbe starten. Ich müsste in der Lage sein, sie innerhalb von ein paar Tagen anzukündigen.«
»Schön.«
Sein Gesicht wurde ernst. »Aber da gäbe es noch etwas, Holly.«
»Was denn?«
Er holte geräuschvoll Luft. »Ich möchte nicht, dass Sie das als eine Rüge auffassen…«
»Eine Rüge? Was habe ich denn getan?«, fragte sie ihn in plötzlicher Besorgnis.
Er berührte sie mit einem ausgestreckten Finger an der Schulter. »Keine Sorge. Das ist keine Rüge.«
»Aber… was dann?«
»Sie und ich arbeiten nun schon seit einigen Monaten zusammen, und im Großen und Ganzen ist Ihre Arbeit ausgezeichnet.«
Sie wusste, dass nun die schlechte Nachricht kam. Sie versuchte, sich keine Verzagtheit oder Angst anmerken zu lassen.
»Etwas wäre da aber doch noch.«
»Worum handelt es sich denn, Malcolm? Sagen Sie es mir, und ich werde es abstellen.«
Er zog die Mundwinkel leicht hoch. »Holly, ich habe nichts dagegen, dass Sie mich mit Vornamen anreden, wenn wir allein sind«, sagte er leise, »doch in der Gegenwart anderer Leute ist mir das zu vertraulich. Sie sollten mich Dr. Eberly nennen.«
»Oh.« Holly wusste aus Eberlys Dossier, dass er nur einen Ehrendoktor hatte. Er war ihm von einem kleinen Internet-College verliehen worden, das Studiengänge in Sprachen und Rhetorik anbot.
»Als ich Sie vor ein paar Tagen Oberst Kananga vorstellte«, fuhr er fort, »war es völlig unangemessen, dass Sie mich mit meinem Vornamen angeredet haben.«
»Es tut mir Leid«, sagte sie kleinlaut. »Ich wusste nicht…«
Er klopfte ihr mit väterlicher Geste auf die Schulter. »Ich weiß. Ich verstehe schon. Ich würde auch gar nicht so darauf herumreiten, wenn für Leute wie Kananga, Morgenthau und andere Respekt nicht so wichtig wäre.«
»Ich wollte nicht respektlos erscheinen, Mal — ich meine, Dr. Eberly.«
»Sie dürfen mich auch weiterhin Malcolm nennen, wenn wir allein sind. Doch in Anwesenheit einer dritten Person wäre es besser, wenn Sie die Formalitäten beachten würden.«
»Sicher«, sagte Holly. »Kein Problem.«
»Gut. Und nun sollten wir besser wieder an die Arbeit gehen.«
Er drehte sich um und ging zur Tür, die ins Gebäude zurückführte. Holly trottete hinter ihm her.
»Noch einmal zu Dr. Cardenas«, sagte sie.
»Ja?«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen oder auch nur den Schritt zu verlangsamen.
»Sie hat sich bereit erklärt, gemäß unserer Richtlinien zu arbeiten. Sie wird bei unserer Annäherung an Ceres zu uns stoßen. Es ist alles arrangiert.«
»Gut«, sagte Eberly ohne jede Regung. »Nun müssen wir nur noch die Bestimmungen abfassen, die für ihre Arbeit gelten werden.«
»Wir werden dafür Professor Wilmots Genehmigung brauchen, nicht wahr?«
Er grinste. »Ja, das werden wir. Es sei denn…«
Holly wartete darauf, dass er den Satz zu Ende brachte. Stattdessen riss Eberly die Tür auf und ging die Metalltreppe hinunter in sein Büro.
Zwei Tage später saß Eberly am leeren Schreibtisch und musterte das Gesicht von Hai Jaansen, dem Chefingenieur des Habitats.
Ruth Morgenthau saß neben Jaansen. Sie wirkte besorgt. Sie trug eins ihrer bunten Gewänder und so viel Schmuck, dass fast das ganze Habitat Schlagseite bekam, sagte Eberly sich. Sie schert sich einen feuchten Kehricht um die Kleiderordnung, stellte er fest. Sie geht mit ihrer Unabhängigkeit hausieren und lässt mich wie einen Trottel dastehen. Aber er unterdrückte den Ausdruck des Ärgers, während er Jaansen beobachtete.
Der Mann sieht überhaupt nicht wie ein Ingenieur aus, sagte Eberly sich. Jaansen war einer dieser blassen, blonden Norweger; selbst die Wimpern waren so hell, dass sie fast unsichtbar waren. Er machte mit seinen rosigen Wangen einen gesunden und gepflegten Eindruck, und anstelle des Ingenieur-Overalls, den Eberly erwartet hatte, trug Jaansen ein gestärktes altmodisches Hemd mit einem offenen Kragen und eine schokoladenbraune Hose mit scharfen Bügelfalten. Die einzige Konzession an seinen Berufsstand, die Eberly sah, war das rechteckige, schwarze, handtellergroße Datenverarbeitungsgerät, das er riskant kippelig auf dem Bein liegen hatte. Jaansen berührte es hin und wieder mit dem Finger der linken Hand, als wolle er sich vergewissern, dass es immer noch da war.
»Nanotechnik ist ein zweischneidiges Schwert«, sagte er irgendwie großspurig — jedenfalls kam es Eberly so vor. »Sie ist überaus vielseitig, birgt andererseits auch große Risiken.«
»Das Problem des grauen Breis«, murmelte Morgenthau.
Jaansen nickte. Er hatte ein kantiges stoisches Gesicht. Eberly mutmaßte, dass der Mann nur sehr wenig Phantasie hatte; er war ein wandelndes Fachbuch, doch jenseits seiner technischen Expertise hat er keinerlei Interessen, keinerlei Kenntnisse und keinerlei Ambitionen. Gut!, sagte Eberly sich.
»Der graue Brei ist eine Sache«, erwiderte Jaansen. »Nanoroboter sind auch schon darauf programmiert worden, Proteine zu zerstören. Sie Molekül für Molekül auseinander zu nehmen.«
»Davon habe ich schon gehört«, sagte Eberly.
»Wir bestehen aus Eiweißen. Und Nanoroboter können als Killer programmiert werden. Dies ist eine reale Gefahr in einer geschlossenen Ökologie, wie es dieses Habitat darstellt. Sie könnten es in weniger als einem Tag vollständig vernichten.«
»Nein! In weniger als einem Tag?«, stieß Morgenthau ungläubig hervor.
Jaansen hob die schmalen Schultern. »In sie umgebendem Material vermögen sie sich binnen Sekunden zu reproduzieren und vermehren sich schneller als Krankheitserreger. Deshalb sind sie normalerweise auch darauf programmiert, durch Nah-UV defunktioniert zu werden.«