»Vielleicht solltest du dich dafür interessieren.«
»Politiker.« Er spie das Wort förmlich aus. »Sie sind doch alle gleich. Sie wollen nur den Chef spielen und dich nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben.«
Nadia Wunderly war einer der wenigen Menschen im Habitat, die Eberlys Empfehlung gefolgt waren und ihren Namen geändert hatten. Ihre Eltern, bodenständige Milchbauern aus New Hampshire, hatten sie auf den Namen Jane getauft, aber sie war immer der Ansicht gewesen, dass dieser biedere Name nicht zu der Abenteurerin passte, die sie im Geiste war. Während der ganzen Schulzeit hatte ihr das Etikett ›Biedere Jane‹ angehängt; sie hasste diesen Namen, obwohl sie beim Blick in den Spiegel schon zugeben musste, dass sie recht bieder wirkte. Sie hatte eine Neigung zur Dicklichkeit, der sie nur durch gnadenlosen Sport und asketisches Fasten entgegenzuwirken vermochte. Das Gesicht war auch rund, doch ihre großen grauen Augen hielt sie für attraktiv. Eulenaugen, sagte sie sich und erinnerte sich daran, dass die Göttin Athene auch Eulenaugen gehabt hatte.
Wunderly experimentierte mit immer neuen Frisuren, um ihr dünnes, glattes Mäusehaar aufzupeppen. Als sie als Mitglied des Wissenschafts-Teams an Bord des Habitats kam, färbte sie sich das Haar sofort feuerrot und setzte sich das Ziel, bis zum Erreichen des Saturns zehn Kilo abzunehmen. Dann änderte sie noch ihren Namen in die rauchige, exotisch klingende Nadia.
Während sie in den Morgennachrichten die Aufzeichnung von Eberlys Rede anschaute, fragte sie sich, was der Mann eigentlich vorhatte. Wir haben doch schon eine Regierung, oder?, fragte sie sich, während sie ihre Frühstücksflocken in Sojamilch löffelte. Und wir alle wissen doch, weshalb wir zum Saturn fliegen: um den Planeten und seine Monde zu studieren, die Lebensformen und die Ringe. Diese wunderschönen Ringe. Dies ist eine rein wissenschaftliche Mission. Begreift Eberly das denn nicht?
Sie kleidete sich mit dem korrekten Gewand und der Hose und schnappte sich eins der Elektro-Fahrräder, die in den Ständern am Eingang des Wohngebäudes standen. Sie war spät dran, sagte sie sich und holte deshalb das Letzte aus dem lautlosen Elektromotor des Zweirads raus, während sie auf dem gewundenen Pfad zu den Wissenschafts-Büros auf dem Hügel fuhr. Auf dem Rückweg werde ich aber in die Pedale treten, sagte sie sich. Dadurch lade ich die Batterie auf und verbrenne gleichzeitig noch ein paar Kalorien.
Nadia grüßte alle, während sie durch die Korridore zu ihrem Arbeitsplatz eilte. Dabei handelte es sich um eine Kammer, die kaum groß genug war, um einen Schreibtisch, Stuhl und ein paar Aktenregale darin unterzubringen. Sie sah Dr. Urbain vorbeieilen; er war zu schnell wieder weg, als dass sie mit ihm Blickkontakt herzustellen vermocht hätte. Später, sagte sie sich. Wenn ich das Konzept ausgearbeitet habe, werde ich es ihm zeigen.
Sie begab sich an die Ausarbeitung des Projekts. Urbain verlangte von jedem Wissenschaftler seines Stabes einen umfassend dokumentierten Forschungsplan. Die anderen brannten darauf, Titan und die dort lebenden Organismen zu studieren. Sie wetteiferten miteinander wie graduierte Studenten, die eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern versuchten. Damit hatte Nadia kein Problem. Sie interessierte sich ausschließlich für diese phantastischen Ringe. Und sie hatte sie alle für sich. Der Rest der Belegschaft war auf Titan fixiert und überließ die Ringe ihr allein.
Es kann überhaupt nichts schief gehen, sagte Nadia sich. Ich bin die Einzige. Ich habe sie alle für mich.
Sie rief die aktuellen Teleskopbilder von den Ringen auf und war bald in die Betrachtung ihrer geheimnisvollen, ästhetischen Dynamik versunken. Wie sind diese Stränge nur geflochten worden?, fragte sie sich. Wie kommt es, dass diese Speichen manchmal erscheinen und dann wieder verschwinden? Und vor allem, wieso hat der Saturn überhaupt so schöne Ringe? Sie können nicht sehr alt sein, denn ihre Teilchen fallen innerhalb von ein paar Millionen Jahren auf den Planeten. Wie kommt es, dass sie sich uns so darbieten? Wie kommen wir zu diesem Glück? Wie kommt es, dass Jupiter und die anderen Gasriesen kleine dunkle Ringe haben, die man kaum sieht, während Saturn von diesem großartigen Reif umspannt wird? Was macht den Saturn so besonders?
Die Stunden vergingen, während sie die Ringe in ihrem komplexen, geradezu hypnotischen Ballett betrachtete. Sie vergaß die anderen Wissenschaftler, die um Urbains Gunst buhlten. Sie vergaß den Entwurf, den sie fertig stellen musste. Sie vergaß Eberly und seine Rede und überhaupt alles um sich herum — so groß war die Faszination, die die glühenden, verlockenden Ringe des Saturn auf sie ausübten.
Oswaldo Yaňez vermochte an nichts anderes mehr als an Eberlys Rede zu denken. Er löcherte andere Ärzte auf der Krankenstation, hielt Krankenschwestern auf ihrer Runde an, um sie nach ihrer Meinung zu fragen und diskutierte mit jedem Patienten, den er an diesem Morgen sah, über die Rede.
Er tippte einem Mechaniker, der über Rückenschmerzen klagte, auf die Brust und sprach in höchsten Tönen von Eberlys Ideen.
»Der Mann hat absolut Recht«, insistierte er. »Er ist ein Genie. Es bedarf auch eines wirklichen Genies, um durch die ganzen Details zum Kern der Sache vorzustoßen.«
Sein Patient zuckte leicht zusammen, als er sich auf dem Behandlungstisch aufsetzte. »Geben Sie mir einfach eine Spritze, Doc, und lassen Sie mich wieder an die Arbeit gehen«, erwiderte er.
Den ganzen Morgen textete Yanez in seinem lebhaften, schnellen Englisch mit spanischem Akzent alle und jeden zu, der in seine Hörweite kam. Er war ein runder kleiner Mann mit einem runden, fröhlichen Koboldgesicht, das ein sehr reges Mienenspiel hatte — vor allem dann, wenn er sich so für ein Thema begeisterte wie für Eberlys Rede.
Yanez war weder ein politischer Exilant noch ein Rebell oder ein verurteilter Straftäter. Er war Idealist. Er hatte sich von der Schulmedizin in Buenos Aires abgewandt, weil er glaubte, dass das Verbot des therapeutischen Klonens auf überholten religiösen Überzeugungen beruhte und die eindeutigen Beweise für den medizinischen Nutzen ignorierte, den die Regeneration von durch Krankheit oder Trauma beschädigtem Gewebe zeitigte. Die Ärztekammer hatte ihn vor die Wahl gestellt: Entweder nahm er an der Saturn-Mission teil, oder er blieb in Buenos Aires und bekam die Approbation entzogen. Yaňez fiel die Entscheidung nicht schwer: Eine neue, sauberere Welt war auf jeden Fall dem langsamen geistigen Tod vorzuziehen, der ihn unweigerlich ereilen würde, wenn er blieb. Er bat nur darum, dass seine Frau ihn begleiten dürfe. Sie war ziemlich erstaunt, als er ihr die Nachricht verkündete.
Und nun hatten Eberlys kühne Worte es ihm angetan. »Wir sollten die Kontrolle über dieses Habitat übernehmen«, wiederholte er den lieben langen Tag. »Wir sollten unsere eigene Regierung bilden und diese neue Welt so gestalten, wie sie gestaltet werden sollte. Und Eberly ist eindeutig der richtige Mann, um uns zu führen.«
284 Tage nach dem Start
Professor Wilmot lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück und genoss den Komfort der Lederpolsterung. Das Holo-Fenster zur Linken zeigte eine dreidimensionale Abbildung der felsigen Küste, wo der River Bann sich in den kalten und turbulenten North Channel ergoss. Es war, als ob er auf dem alten Familiensitz aus dem Fenster geschaut hätte. Merkwürdig, sagte er sich, ich vermisse die alte Heimat immer nur dann, wenn ich solche Szenen betrachte. Aus der Ferne sieht man wohl alles durch eine rosarote Brille.
Das Telefon summte und meldete: »Dr. Eberly möchte Sie sprechen, Sir.«
Wilmot seufzte schwer und blendete die Ansicht seiner alten Heimat aus. Willkommen in der Realität, sagte er sich und befahl dem Bürocomputer, die Tür vom Vorzimmer zu öffnen.
Malcolm Eberly trat ein. Er wurde von einer jungen Assistentin begleitet, einer langbeinigen, dunkelhäutigen, jungen Frau. Sie trug ein lindgrünes Gewand, das ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte. Sie hatte keine Accessoires außer einem Namensschild. Sie ist bloß ein naives kleines Dummchen für ihn. Wilmot lächelte beinahe. Wenn du glaubst, du könntest mich mit ihr kirre machen, mein Junge, dann bist du schief gewickelt.