Natürlich!, sagte Eberly sich. Sie haben das alle schon einmal erlebt. Sie kennen dieses beschissene Gefühl schon, und nun macht es ihnen nichts mehr aus. Sie stammen alle aus gut situierten Familien, sind reiche und verwöhnte Kinder, die sich noch nie im Leben um irgendetwas Sorgen zu machen brauchten. Ich bin hier der Einzige, der noch nie die Erde verlassen hat, der Einzige, der für seinen Lebensunterhalt kämpfen musste, der Einzige, der Hunger, Krankheit und Angst kennt.
Ich muss das hier aushalten. Ich muss! Sonst werden sie mich wieder zurückschicken, und ich werde in einer verdammten Gefängniszelle krepieren.
Mit einer schieren Willensanstrengung überstand Eberly die Stunden in der Schwerelosigkeit. Als die Frau auf dem Sitz neben ihm das Gespräch mit ihm suchte, reagierte er kurz angebunden auf ihre blödsinnigen Bemerkungen und bemühte sich verzweifelt, sich nicht anmerken zu lassen, wie lausig es ihm ging.
Er rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass sie nicht den kalten Schweiß sah, der auf seiner Oberlippe perlte. Er spürte, dass das billige, dünne Hemd, das er trug, durchgeschwitzt war. Nach einer Weile verstummte sie und richtete die Aufmerksamkeit auf den Bildschirm, der in die Rückenlehne des Vordersitzes integriert war.
Eberly konzentrierte sich ebenfalls auf die Bilder. Der Bildschirm zeigte das Habitat, einen plumpen Zylinder, der wie ein von einem abgezogenen Bautrupp zurückgelassenes Rohr in der Leere des Raums hing. Doch je näher sie kamen, desto mehr nahm das Habitat Gestalt an. Eberly sah, dass es langsam rotierte; er wusste, dass der Spin ein Gefühl von Schwerkraft im Innern des Zylinders verursachte. Zahlen gingen ihm durch den Kopf: Das Habitat hatte eine Länge von zwanzig Kilometern und einen Durchmesser von vier Kilometern. Es drehte sich alle fünfundvierzig Sekunden einmal um die eigene Achse, wodurch eine Zentrifugalkraft entstand, die der normalen Erdenschwere entsprach.
Er war plötzlich so aufgeregt, dass er fast das Gefühl der Übelkeit vergaß. Nun sah er auch die großen Fenster, die über die ganze Länge des riesigen Zylinders verliefen. Und dann kam auch der Mond ins Bild und leuchte die Szene hell aus. Aus der Nähe betrachtet war der Mond hässlich, vernarbt und mit unzähligen Kratern übersät. Eberly wusste indes, dass einer der größten Krater den Stadtstaat Selene beherbergte.
Schnell wurde das Habitat so groß, dass es alles andere ausblendete. Im ersten Moment befürchtete Eberly schon, dass sie mit ihm kollidierten, obwohl der Verstand ihm sagte, dass die Piloten des Schiffs alles unter Kontrolle hatten. Er sah die Sonnenspiegel, die sich an die Rundungen des Zylinders schmiegten. Und es wuchsen Stiele und Knubbel aus der Hülle des Habitats wie Warzen an einer Gurke. Er wusste, dass sie zum Teil Beobachtungskuppeln waren. Bei anderen Auswüchsen handelte es sich um Andock-Ports, Schubdüsen und Luftschleusen.
»Hier spricht der Kapitän«, ertönte die Stimme einer Frau aus den Lautsprechern, die über jedem Monitor eingelassen waren. »Wir sind in einen Orbit um das Habitat gegangen. In drei Minuten werden wir andocken. Sie werden einen oder zwei Rucke spüren — kein Grund zur Sorge.«
Und doch erschraken die Passagiere, als der Ruck sie durchfuhr. Eberly umklammerte in Erwartung eines weiteren Stoßes die Sitzlehnen. Aber es passierte nichts mehr. Außer…
Der Magen hatte sich beruhigt! Das Gefühl der Übelkeit war verschwunden. Die Gravitation war zurückgekehrt, und er fühlte sich wieder ganz normal. Nein, sogar besser als normal. Er drehte sich zu der Frau um, die neben ihm saß, und musterte kurz ihr Gesicht. Es war ein rundes, fast pausbäckiges Gesicht mit großen dunklen Mandelaugen und lockigem schwarzem Haar. Sie hatte einen glatten, dunklen Teint. Eberly vermutete, dass sie aus dem Mittelmeerraum stammte — vielleicht Griechin, Spanierin oder Italienerin. Er lächelte sie kurz an.
»Da sitzen wir nun schon seit über sechs Stunden nebeneinander, und ich habe mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Malcolm Eberly.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Ja, das sehe ich.« Sie tippte aufs Namensschild, das an ihre Bluse angesteckt war und sagte: »Ich bin Andrea Maronella. Ich gehöre zum Agrotech-Team.«
Eine Bäuerin, sagte Eberly sich. Eine Landpomeranze. »Ich bin der Leiter der Abteilung Human Resources«, erwiderte er mit einem noch breiteren Lächeln.
»Wie schön.«
Bevor er noch etwas zu sagen vermochte, forderte die Flugbegleiterin sie auf, sich loszuschnallen und zur Schleuse zu gehen. Eberly löste den Sicherheitsgurt und erhob sich. Er war froh, sein altes Gewicht zurückerlangt zu haben, und vermochte es kaum zu erwarten, einen Blick ins Habitat zu werfen. Die Panik, gegen die er angekämpft hatte, verflog. Ich habe es geschafft!, frohlockte er innerlich. Ich habe die Angst ausgehalten und sie besiegt.
Er ließ Maronella den Vortritt beim Betreten des Gangs und folgte ihr dann zur Schleuse. Die sechzehn Männer und Frauen passierten der Reihe nach die Schleuse und betraten eine Kammer aus kahlen Metallwänden. Ein älterer Mann stand neben der Innenschleuse; er war groß und korpulent, hatte dichtes grau metallisches Haar und einen buschigen Bart von derselben Farbe. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und vom jahrelangen Schielen in die Sonne Falten in den Augenwinkeln. Er trug eine abgeschabte Weste aus Wildleder und zerknitterte beige Jeans. Zwei jüngere, mit Overalls bekleidete Männer standen dicht hinter ihm — offensichtlich irgendwelche Untergebene.
»Willkommen im Habitat Goddard«, sagte er mit einem warmen Lächeln. »Ich bin Professor James Wilmot. Die meisten von Ihnen kennen mich bereits, und was die anderen betrifft, so freue ich mich darauf, Sie kennen zu lernen und mit Ihnen unsere Zukunft zu erörtern. Doch zunächst lassen Sie uns einen Blick auf die Welt werfen, die wir mindestens für die nächsten fünf Jahre bewohnen werden.«
Anschließend betätigte einer der jungen Männer hinter ihm die Tastatur in der Wand neben der Schleuse, und die schwere Stahltür schwang langsam nach innen. Eberly spürte einen warmen Lufthauch im Gesicht, wie die zärtliche Berührung seiner Mutter, an die er sich schwach erinnerte.
Die Gruppe der sechzehn Abteilungsleiter ging durch die Schleuse. Hier bin ich nun, sagte Eberly sich und fühlte eine erneute Aufwallung von Panik. Es gibt kein Zurück mehr. Dies ist die Neue Welt, in der ich leben soll. Dieser riesige Zylinder, diese Maschine. Man hat mich ins Exil geschickt. Sie schicken mich bis zum Saturn. So weit weg wie nur möglich. Ich werde die Erde nie mehr wiedersehen.
Er war einer der Letzten in der Reihe. Als er die offene Luke erreichte und hindurchging, hörte er die erstaunten Ausrufe der anderen. Und dann sah er auch den Grund dafür.
In alle Richtungen um ihn herum erstreckte sich eine grüne Landschaft, die in warmes Sonnenlicht getaucht war. Sanfte, mit Gras bewachsene Hügel, Baumgruppen und kleine mäandernde Flüsse verschwanden in der diesigen Ferne. Die Gruppe stand auf dem sanften Abhang eines Hügels, von wo aus sie einen freien Blick aufs weitläufige Innere des Habitats hatte. Dichte Büsche aus leuchtend roten Hibiskusblüten und lavendel-farbenem Oleander säumten einen gewundenen Pfad, der zu einer Gruppe niedriger weißer Gebäude führte. Sie leuchteten im Sonnenlicht, das durch die langen Fenster hereinströmte.
Ein mediterranes Dorf, sagte Eberly sich, das terrassenförmig an der Flanke eines mit Gras bewachsenen Hügels angelegt worden war und einen schimmernden blauen See überschaute. Eine idyllische Mittelmeerlandschaft wie aus einem Reiseprospekt. In der Ferne machte er etwas aus, das wie Ackerland aussah: rechteckige kleine Felder, die erst kürzlich gepflügt worden zu sein schienen, und weitere Ansammlungen weiß getünchter Gebäude. Einen Horizont gab es nicht. Stattdessen wölbte das Land sich einfach auf, Hügel und Gräser und Bäume und noch mehr kleine Dörfer mit ihren gepflasterten Straßen und funkelnden Flüssen — es wölbte sich auf beiden Seiten auf, bis er den Kopf in den Nacken legte und über sich noch mehr von der sorgfältig und liebevoll gestalteten Landschaft sah.