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Gaeta hob beschwichtigend die Hände. »He, nur mit der Ruhe. Nehmen Sie das nicht gleich persönlich. Ich wollte damit nur sagen, dass das ganze Habitat ein künstliches Gebilde ist. Es sieht zwar aus wie ein reales Dorf und reale Farmen und all das, aber wenn man hier unten ist, sieht man doch, dass es sich um eine große Maschine handelt.«

»Ja, stimmt«, sagte Holly. »Das ist allgemein bekannt.«

Sie gingen für eine Weile schweigend weiter, wobei die Deckenbeleuchtung bei ihrer Passage im Wechsel sich ein- und ausschaltete. Wie von Zauberhand, sagte Holly sich. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie eigentlich im Büro bei der Arbeit hätte sein müssen. Aber es macht Spaß, die Tunnels zu erkunden, sagte sie sich. Man kann schließlich nicht immer nur arbeiten. Ab und zu will man auch ein wenig Spaß haben.

Der Tunnel gabelte sich vor ihnen, und in einer Wand tat sich ein anderer Tunnel auf, der ihren auf einer unteren Ebene kreuzte.

»Diese Richtung«, sagte Holly und schwang ein Bein übers Geländer.

»Dort hinunter?«, fragte Gaeta.

»Sicher.« Sie flankte übers Metallgeländer, packte die unterste Strebe und baumelte dort für einen Moment. Dann ließ sie sich vier Meter tief auf den Metallboden des unteren Tunnels fallen.

»Kommen Sie«, rief Holly zu Gaeta herauf. »Es ist eine Abkürzung zu den Farmen.«

Er beugte sich mit skeptischem Blick übers Geländer. Dann kletterte er langsam und methodisch über die Reling und ließ sich neben ihr auf den Boden fallen, wobei er leicht auf den Zehenballen landete.

»Für einen Stuntman sind Sie aber recht zimperlich«, frozzelte sie.

»So bleibt ein Stuntman an einem Stück«, erwiderte er grinsend. »Es gibt alte Stuntmen und kühne Stuntmen, aber es gibt keine kühnen alten Stuntmen.«

Holly lachte verstehend.

»Wie weit ist es noch bis zu den Farmen?«, fragte Gaeta.

»Nicht mehr weit.«

»Wie weit?«

Sie runzelte die Stirn und antwortete: »Weniger als drei Kilometer.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich habe mir alle Tunnel eingeprägt«, sagte Holly.

»Alle? Jeden einzelnen? Jeden Kilometer?«

»Jeden Zentimeter.«

Er lachte. »Alles im Kopf gespeichert, was?«, sagte er und tippte sich an die Schläfe.

Holly zog den Palmtop aus der Tasche des Gewands und drückte mit dem Daumen die Positions-Taste. Auf dem Bildschirm erschien eine schematische Darstellung der Tunnel, die sich unter der künstlichen Landschaft des Habitats hindurchschlängelten; ein blinkender roter Cursor markierte ihren Standort.

Gaeta schaute ihr über die Schulter auf den Bildschirm. Sie spürte seinen warmen Atem im Nacken und fühlte seine Körperwärme.

»Unglaublich«, sagte er ehrfurchtsvoll. »Sie haben Recht.«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt, oder? Ich habe mir den ganzen Grundriss des Habitats eingeprägt. Jeden einzelnen Zentimeter.«

Gaeta legte sich die Hand aufs Herz und machte eine leichte Verbeugung. »Perdone mi, Senorita. Ich bitte um Verzeihung, dass ich an Ihnen gezweifelt habe.«

»Da nada«, sagte Holly, womit ihre Spanischkenntnisse aber auch schon erschöpft waren. Sie schwor sich, irgendwann die Sprache gründlicher zu lernen.

Ihr Abenteuer hatte vor der Mittagspause begonnen, als Gaeta in Hollys Büro gekommen war und um eine Genehmigung für eine Exkursion außerhalb des Habitats ersucht hatte.

»Muss den Anzug testen«, erklärte er. »Wir haben schon ein halbes Dutzend Änderungen daran vorgenommen und müssen ihn nun im harten Vakuum testen.«

Holly schaute vom Bürostuhl zu ihm auf und bemerkte, dass seine Augen die dunkelsten waren, die sie jemals gesehen hatte.

»Da müssen Sie sich an die Sicherheitsabteilung wenden«, sagte sie. »Dies ist die Personalabteilung.«

Gaeta zuckte leicht die Achseln. »Ja, ich weiß, aber ich sagte mir, dass Sie mir vielleicht helfen könnten. Ich kenne niemanden in der Sicherheitsabteilung, und wir beide haben uns zumindest schon kennen gelernt.«

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass das eine Lüge war. Oder vielleicht ein Vorwand, um mich zu sehen?, fragte Holly sich. Ohne lang zu überlegen, rief sie im Sicherheitsbüro an und vereinbarte einen Gesprächstermin für Gaeta.

Dann lud er sie zum Mittagessen ein, und sie unterhielten sich über seinen Plan, auf die Oberfläche des Titan abzusteigen, und das Leben im Habitat; und ehe sie es sich versah, erzählte Holly ihm ihre Lebensgeschichte — oder zumindest den Teil, an den sie sich erinnerte.

»Nehmen wir uns den Nachmittag doch frei«, schlug er plötzlich vor.

Holly nahm einen Schluck Kaffee und sagte sich, dass auf dem Schreibtisch zu viel Arbeit auf sie wartete; auf der anderen Seite war Manny nicht unattraktiv, und wenn er lächelte, leuchteten diese dunklen Augen auf wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte.

»Und was sollen wir tun?«, fragte sie.

Er breitete die Hände aus und grinste sie an. »Nichts. Einfach nur herumhängen. Für ein paar Stunden einmal gar nichts tun.«

»Ich hätte eine bessere Idee«, sagte Holly und stellte die Kaffeetasse mit einem leisen Klirren ab.

»Welche denn?«, fragte er.

»Wir gehen auf eine Erkundungstour«, sagte Holly.

Also führte sie ihn zu einer Einstiegsluke, die in die Rückseite des Verwaltungsgebäudes eingelassen war, und dann die Metallleiter hinunter in den Versorgungstunnel.

»Wie der Abstieg zu den Morlocks«, murmelte er, als sie die Leiter hinunter kletterten.

»Ohrlocks?«, fragte Holly verständnislos.

Gaeta lachte nur.

Während sie durch den Tunnel gingen, sich unterhielten, sich umschauten und Entdeckungen machten, wurde Holly sich bewusst, dass sie mit diesem Mann allein war und niemand wusste, wo sie war. Was soll ich tun, wenn er sich an mich ranmacht?, fragte sie sich. Und ein anderer Teil ihres Bewusstseins fragte, was soll ich machen, wenn er sich nicht an dich ranmacht?

Er ist schon ein Hengst, sagte Holly sich, während sie durch den Tunnel marschierten. Er war nicht viel größer als sie, aber kräftig und muskulös. Sie hatte unter dem wachsamen Blick ihrer Schwester noch nie die Gelegenheit zu sexuellen Experimenten gehabt — obwohl sie nach dem zu urteilen, was Pancho ihr erzählt hatte, schon in der Schule etliche ›Spielgefährten‹ und sogar ernsthafte Liebschaften gehabt hatte. Das war aber gewesen, bevor sie gestorben war.

Soll ich Malcolm ein bisschen eifersüchtig machen?, fragte sie sich. Er beachtet mich gar nicht. Vielleicht wird er Notiz von mir nehmen, wenn er sieht, dass ich mich mit diesem Prachtkerl treffe. Vielleicht…

»Wie gut kennen Sie eigentlich Dr. Cardenas?«, fragte Gaeta, als sie an einer Tunnelgabelung anhielten.

Holly zögerte für einen Moment und rief das mental abgespeicherte Tunnel-Netzwerk auf. »In dieser Richtung«, sagte sie mit einem Fingerzeig, »geht es zu den Farmen. Und in dieser Richtung zu den Fabriken.«

Er kratzte sich am Kinn. »Wir müssen dann den ganzen Weg zum Dorf zurückgehen?«

»Sicher. Es sind nur ein paar Kilometer.«

»Gibt es denn kein Transportmittel?«

Holly lachte. »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass Sie schon müde sind!«

»Nee, eigentlich nicht. Ich sagte mir nur, dass es langsam Abendessenszeit wird und dass ich vorher noch duschen und mich umziehen sollte, wissen Sie.«

Holly spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Versuchte er vielleicht, mich in sein Apartment zu locken?

»Ich bin mit Dr. Cardenas zum Abendessen verabredet«, erklärte er, »und ich will einen guten Eindruck bei ihr machen.«

Hollys Gesicht verdüsterte sich. »Mit Dr. Cardenas?«

Er musste ihre Enttäuschung bemerkt haben. Sie wurde sich bewusst, dass sogar ein Blinder sie gesehen hätte.