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»Atemberaubend«, flüsterte Maronella.

»Faszinierend«, sagte ein anderer.

Eine jungfräuliche Welt, sagte Eberly sich, unberührt von Krieg, Hungersnot und Hass. Unberührt von allen menschlichen Regungen. Sie wartet nur darauf, geformt und beherrscht zu werden. Vielleicht würde es hier doch nicht so schlimm sein.

»Das muss doch Unsummen verschlungen haben«, sagte ein junger Mann mit kräftiger, geschäftsmäßiger Stimme. »Wie hat das Konsortium das Geld überhaupt aufzubringen vermocht?«

Professor Wilmot lächelte und fasste sich an den Bart. »Das Habitat stammt aus einer Konkursmasse. Die früheren Besitzer sind beim Versuch, es in ein Altersheim umzuwandeln, Bankrott gegangen.«

»Wer zieht denn heute überhaupt noch in ein Altersheim?«

»Genau deshalb sind sie ja Bankrott gegangen«, erwiderte Wilmot.

»Trotzdem… Die Kosten…«

»Das Internationale Universitäts-Konsortium ist auch nicht ganz mittellos«, sagte Wilmot. »Und wir haben auch viele Ehemalige, die sehr großzügig sind, wenn man sie nur richtig anspricht.«

»Sie meinen, wenn man nur lang genug versucht, ihnen den Arm auszureißen«, witzelte eine Frau. Die anderen lachten, und sogar Wilmot gestattete sich ein Lächeln.

»So sieht es also aus«, sagte der Professor. »Dies wird für die nächsten fünf Jahre Ihr Zuhause sein, und für viele von Ihnen sogar noch länger.«

»Und wann kommen die anderen?«

»Zunächst muss der Personalausschuss geeignete Bewerber auswählen. Nachdem sie die abschließenden körperlichen und psychologischen Eignungstests durchlaufen haben, werden sie an Bord kommen. Ungefähr zwei Drittel der verfügbaren Stellen haben wir bereits besetzt, und wir können uns vor Bewerbern kaum retten.«

Die anderen stellten weitere Fragen, die Wilmot geduldig beantwortete. Eberly filterte die Stimmen aus der bewussten Wahrnehmung aus. Er ließ den Blick durch das riesige Habitat schweifen und genoss diesen Moment der Entdeckung, die Ankunft in einer neuen Welt. Zehntausend, mehr dürfen sich uns nicht anschließen. Doch in diesem Habitat hätten leicht hunderttausend Menschen Platz. Sogar eine Million!

Er dachte an die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war: acht, zehn, sogar zwölf Leute in einem Raum. Und dann die gnadenlose Disziplin der Klosterschulen. Und das Gefängnis.

Zehntausend Menschen, sinnierte er. Sie werden hier ein Leben im Luxus führen. Sie werden wie Könige leben!

Er lächelte. Nein, sagte er sich. Es wird hier nur einen König geben. Einen Herrn. Dies wird mein Königreich sein, und jeder darin wird sich meinem Willen beugen müssen.

Wien: Gefängnis Schönbrunn

Über ein Jahr, bevor er vom Habitat Goddard überhaupt Kenntnis erlangt hatte, war Malcolm Eberly plötzlich aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er noch nicht einmal die Hälfte seiner Strafe wegen Betrugs und Untreue verbüßt hatte.

Der weitläufige alte Palast von Schönbrunn war nach den Flüchtlings-Aufständen, durch die ein großer Teil von Wien und dessen Umgebung verwüstet worden waren, in ein Gefängnis umgewandelt worden. Als Eberly erfahren hatte, dass er die Haftzeit in Schönbrunn absitzen würde, hatte er noch Hoffnung gehegt: Wenigstens handelte es sich nicht um ein schmutziges Staatsgefängnis, wo Gewohnheitsverbrecher einsaßen. Doch wurde er schnell eines Besseren belehrt: Ein Gefängnis ist und bleibt nun einmal ein Gefängnis, in dem Verbrecher und Perverse einsitzen. Schmerz und Demütigung waren ständige Gefahren, Furcht sein ständiger Begleiter.

Der Morgen hatte begonnen wie immer: Eberly wurde vom durchdringenden Signal einer Trillerpfeife aus dem Schlaf gerissen. Er schwang sich von der oberen Koje herunter und wartete stumm, während seine drei Zellengenossen das Waschbecken und die Toilette benutzen. Er hatte sich an den Gestank der Zelle gewöhnt und schon zu Beginn der Haft gelernt, dass Beschwerden nur mit Schlägen quittiert wurden — entweder von den Wärtern oder den Zellengenossen.

Es existierte eine Hierarchie unter den Gefangenen. Diejenigen, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung standen, führten die Hackordnung an. Mördern, sogar jenen armen Teufeln, die aus Leidenschaft töteten, wurde mehr Respekt entgegengebracht als Dieben oder Kidnappern. Kleine Gauner, zu denen Eberly gehörte, waren am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt und mussten Handlangerdienste für ihre ›Vorgesetzten‹ verrichten, ob sie wollten oder nicht.

Zum Glück war Eberly in eine Zelle verlegt worden, deren Capo ein früherer Kfz-Mechaniker aus Kalabrien war, den man wegen Bandenkriminalität, Terrorismus, Banküberfällen und Mord schuldig gesprochen hatte. Obwohl kaum des Lesens und Schreibens kundig, war der Kalabrier der geborene Organisator: Er führte seinen Gefängnistrakt wie ein mittelalterliches Lehen, schlichtete Streit und setzte eine brachiale Art von Gerechtigkeit durch — und das so effizient, dass die Wachen ihm gestatteten, den Frieden unter den Häftlingen auf seine Art und Weise zu bewahren. Irgendwann erkannte der Capo, dass er jemanden brauchte, der einen Computer bedienen konnte, um den Kontakt zu seiner Familie in ihrem Bergdorf und zu den versprengten Mitgliedern seiner Bande aufrechtzuerhalten, die sich noch immer in den Hügeln versteckten. Also wurde Eberly sein Sekretär, und ab diesem Zeitpunkt durfte ihn niemand mehr behelligen.

Es war die geisttötende Routine jedes langen, öden Tags, die Eberly seelisch krank machte. Seit er unter dem Schutz des Kalabriers stand, hatte er in körperlicher Hinsicht keine Probleme mehr, doch die triste Monotonie der Zelle, des Essens, der Gestank, die stupiden Unterhaltungen der anderen Gefangenen — Tag für Tag, Woche für Woche — drohten ihn um den Verstand zu bringen. Er versuchte sich durch tägliche Besuche in der Gefängnisbücherei geistig zu beschäftigen. Dort durfte er den streng überwachten Computer benutzen, um wenigstens eine virtuelle Verbindung zur Außenwelt herzustellen. Die meisten Unterhaltungs-Websites wurden entweder zensiert oder waren gar nicht erst zugänglich, doch die Gefängnisleitung gestattete — ermutigte sogar — den Besuch von Bildungs-Websites. In seiner Verzweiflung meldete Eberly sich für einen Kurs nach dem andern an, schloss ihn in der Regel viel schneller ab als vorgesehen und eilte dann zum nächsten.

Anfangs belegte er alle Kurse, die gerade angeboten wurden: Renaissance-Malerei, Transaktions-Psychologie, Kläranlagen- Technik, Goethes Dichtkunst. Er spielte dabei überhaupt keine Rolle, um welches Thema es sich handelte; Hauptsache, er war beschäftigt und vermochte für ein paar Stunden am Tag dem Gefängnis zu entfliehen, auch wenn es nur über den Computer geschah.

Allmählich entwickelte er jedoch eine Vorliebe fürs Studium der Geschichte und Politik. Schließlich bewarb er sich um einen Studienplatz an der Fern-Universität von Edinburgh.

Zu seiner großen Überraschung holte an einem Morgen wie jedem anderen der Gefängnisdirektor ihn aus der Reihe, als er und seine Zellengenossen zum Speisesaal schlurften, um ihr lauwarmes Frühstück einzunehmen.

Der bartstoppelige und humorlose Rittmeister tippte Eberly mit dem Knüppel auf die Schulter und sagte: »Mir folgen.«

»Wieso ich? Was ist denn los?«, platzte Eberly ebenso erstaunt wie erschrocken heraus.

Der Rittmeister hielt Eberly den Gummiknüppel unter die Nase und befingerte den Spannungsregler. »In der Reihe wird nicht gesprochen! Und nun folgen Sie mir.«

Die anderen Sträflinge marschierten schweigend weiter. Die Köpfe hatten sie nach vorn gerichtet, doch ihre Blicke wanderten heimlich zu Eberly und zum Rittmeister. Dann schauten sie wieder nach vorn. Eberly wusste, wie der Knüppel sich mit einer vollen Ladung anfühlte. Also senkte er den Kopf und folgte dem Rittmeister fügsam aus dem Speisesaal.